© Academy of Motion Picture Arts and Sciences
Quelle: Academy of Motion Picture Arts and Sciences
Vor fast genau 17 Jahren, im April 2004, saß ich ziemlich müde in der Union Station von Los Angeles, dem bedeutendsten Bahnhof der kalifornischen Metropole, und wartete auf meinen Zug nach San Diego. Erst wenige Stunden zuvor bin ich am Flughafen bei meinem ersten Trip in die USA gelandet und war als 18-Jähriger natürlich begeistert und überwältigt von all diesen neuen Eindrücken. Was ich mir hätte damals nie vorstellen können, war, dass eines Tages diese Bahnhofshalle (neben dem traditionellen Dolby Theatre in L.A.) zu einem der zentralen Schauplätze der 93. Oscarverleihung werden würde. Doch wer hätte sich schon irgendetwas davon vorstellen können, was sich in den letzten 14 Monaten auf dieser Welt abgespielt hat?
Vergangene Nacht wurden zum 93. Mal die Oscars verliehen, und zum 22. Mal habe ich sie live mitverfolgt. Seit dem Alter von 14 habe ich keine Oscarverleihung verpasst, und das sollte auch dieses Jahr nicht passieren. Doch etwas war anders, ganz anders. Die Begeisterung und Vorfreude, die ich jedes Mal im Vorfeld empfunden habe, war weg. Die Oscars waren für mich immer synonym mit dem Feiern des Kinoerlebnisses, und wie kann man die Freude aufbringen, wenn die Kinos inzwischen seit rund einem halben Jahr dicht sind? Noch nie habe ich so wenige Kandidaten im Vorfeld gesehen, und deshalb fiel es mir schwer, mit irgendjemandem aufrichtig mitzufiebern.
Die den Umständen angepasste, entsprechend trockene Zeremonie sorgte auch nicht gerade für ein Wiederaufflammen der Begeisterung. Das seltsame Aufrütteln der üblichen Kategorien-Reihenfolge, bei der "Bester Film" diesmal vor den beiden Hauptdarsteller-Kategorien präsentiert wurde, hatte definitiv nicht den vermutlich erwünschten Effekt. Es fällt schwer, nicht anzunehmen, dass "Bester Hauptdarsteller" als finale Auszeichnung des Abends ein zynisches Kalkül war, um den verstorbenen Chadwick Boseman, der für Ma Rainey’s Black Bottom als Favorit ins Rennen ging, als krönenden Abschluss des Abends zu prämieren und mit einer emotionalen Rede seiner Witwe abzuschließen. Stattdessen gewann jedoch überraschend Sir Anthony Hopkins für das Drama The Father und war selbst auch nicht anwesend, um den Preis entgegenzunehmen, sodass die Verleihung sehr antiklimatisch und abrupt endete.
Peter Finch (Network) und Heath Ledger (The Dark Knight) bleiben damit weiterhin die einzigen posthum von der Academy ausgezeichneten Schauspieler. Der 83-jährige Hopkins, der bereits einen Oscar für Das Schweigen der Lämmer gewonnen hat, wurde zum ältesten Oscargewinner in einer Schauspielkategorie.
Das antiklimatische Finale der Verleihung spiegelt für mich auch perfekt mein Desinteresse am diesjährigen Oscar-Rennen wieder, was Euch vielleicht an deutlich reduzierter Berichterstattung zu dem Thema auch schon aufgefallen ist. Nichtsdestotrotz wollen wir Euch natürlich die komplette Liste der Gewinner von letzter Nacht nicht vorenthalten. Die vollständige Liste der Nominierungen findet Ihr hier.
Bester Film
Nomadland
Beste Regie
Chloé Zhao (Nomadland)
Bester Hauptdarsteller
Anthony Hopkins (The Father)
Beste Hauptdarstellerin
Frances McDormand (Nomadland)
Bester Nebendarsteller
Daniel Kaluuya (Judas and the Black Messiah)
Beste Nebendarstellerin
Yuh-Jung Youn (Minari – Wo wir Wurzeln schlagen)
Bestes Originaldrehbuch
Emerald Fennell (Promising Young Woman)
Bestes adaptiertes Drehbuch
Christopher Hampton (The Father)
Beste Kamera
Erik Messerschmidt (Mank)
Bestes Szenenbild
Mank
Bester Schnitt
Sound of Metal
Beste Kostüme
Ma Rainey’s Black Bottom
Bestes Makeup & Hairstyling
Ma Rainey’s Black Bottom
Beste visuelle Effekte
Tenet
Bester Animationsfilm
Soul
Bester Ton
Sound of Metal
Bester Dokumentarfilm
Mein Lehrer, der Krake
Bester Dokumentar-Kurzfilm
Colette
Bester internationaler Film
Der Rausch (Dänemark)
Bestes Filmlied
"Fight for You" (Judas and the Black Messiah)
Beste Filmmusik
Jon Batiste, Trent Reznor, Atticus Ross (Soul)
Bester animierter Kurzfilm
If Anything Happens I Love You
Bester Kurzfilm
Two Distant Strangers
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Wie erwartet, ging das in Venedig schon prämierte Drama Nomadland als Sieger des Abends mit drei Oscars in Schlüsselkategorien "Hauptdarstellerin", "Regie" und "Film" hervor. Chloé Zhao wurde erst zur zweiten Frau nach Kathryn Bigelow (Tödliches Kommando – The Hurt Locker), die den Regie-Oscar gewonnen hat, und zur ersten Woman of Color, die in der Kategorie ausgezeichnet wurde – ein längst überfälliger Meilenstein der Inklusion. Frances McDormand zementierte ihren Status als eine der besten Schauspielerinnen ihrer Generation mit ihrem dritten Oscarsieg. Erst vor drei Jahren wurde sie für Three Billboards Outside Ebbing, Missouri ausgezeichnet. McDormand gehört nun neben Katharine Hepburn, Daniel Day-Lewis, Meryl Streep, Ingrid Bergman, Walter Brennan und Jack Nicholson zum elitären Klub von nur sieben Frauen und Männern, die mindestens drei Oscars für die Schauspielerei gewonnen haben.
Die diesjährigen Oscars haben erneut gezeigt, wie wichtig die britischen BAFTAs als Prädiktoren sind. Auch dort haben McDormand und Hopkins schon gewonnen, im Gegensatz zu den ansonsten auch als aussagekräftig gesehenen Golden Globes oder den Screen Actors Guild Awards.
Kein anderer Film außer Nomadland hat mehr als drei Oscars an dem Abend abgeräumt. The Father, Judas and the Black Messiah, Ma Rainey’s Black Bottom, Soul, Mank und Sound of Metal haben dieses Jahr jeweils zwei Auszeichnungen erhalten. Man muss bis 1941 zurückgehen, um ein Jahr zu finden, in dem nur ein einziger Film drei Oscars und kein anderer mehr gewonnen hat. 2006 haben teilten sich immerhin vier verschiedene Filme mit jeweils drei Oscars den Status des meistprämierten Films des Abends.
Aaron Sorkins The Trial of the Chicago 7 war der große Verlierer des Abends, der trotz sechs Nominierungen keinen einzigen Oscar bekommen hat – auch als einziger der acht als "Bester Film" nominierten Filme. Nominell war Mank natürlich der größere Verlierer, da er nur zwei seiner zehn Nominierungen in Siege umsetzen konnte. Dennoch gehörten Netflix mit sieben Oscars die meisten Statuen des Abends, gefolgt von Disney mit fünf und Warner Bros. mit drei.
Die bewegendste Rede des Abends ging eindeutig an Thomas Vinterberg, der den Auslands-Oscar für Der Rausch gewonnen hat und in seiner Dankesrede seiner wenige Tage nach Drehbeginn bei einem Autounfall verstorbenen 19-jährigen Tochter Ida gedachte, der er den Film gewidmet hatte. Da wurden vermutlich nicht nur meine Augen feucht.
Ansonsten bin ich froh, diese seltsame Oscar-Saison hinter mir zu lassen und mich auf eine hoffentlich schönere Zukunft und eine Rückkehr zur Normalität zu freuen. Dass die Flamme der Begeisterung für die Würdigung der Filmkultur durch die Oscars in mir für immer erloschen ist, weigere ich mich zu glauben.