Ben Affleck in Air – Der große Wurf © 2023 Amazon Studios/Warner Bros. Pictures
Quelle: Amazon Prime Video
Nach den Oscars ist vor den Oscars. Nachdem Everything Everywhere All at Once bei der Verleihung der 95. Academy Awards im März abgeräumt hat, kann man inzwischen auch schon einen Blick auf die nächsten Oscars wagen. Das erste Quartal des Filmjahres 2023 ist vorüber, sodass man bereits Bilanz über die potenziellen Kandidaten für die nächste Oscar-Saison ziehen kann. Natürlich hat es sich schon lange etabliert, dass die meisten Oscaranwärter von Studios erst in den letzten drei Monaten des Jahres gestartet werden, damit sie noch frisch im Gedächtnis der Wähler sind. Doch es geht eben auch anders, wie Everything Everywhere gezeigt hat. Der Film kam im März 2022 in die Kinos. Auch Apples Oscarsieger CODA wurde nach seiner Weltpremiere im Januar 2021 bereits im August desselben Jahres vom Streamer veröffentlicht. Oscarnominierte Filme wie Grand Budapest Hotel, Get Out und Erin Brockovich starteten ebenfalls verhältnismäßig früh im Jahr.
Schaut man sich die bisherigen Filme 2023, so stechen noch nicht viele Filme hervor, denen ich nennenswerte Oscarchancen zuschreiben würde. John Wick: Kapitel 4 mag extrem gute Kritiken erhalten habe, ich bezweifle aber, dass der vierte Teil der Ballerorgie bei der Academy außerhalb der technischen Kategorien nominiert werden wird. Am ehesten könnte noch Ben Afflecks fünfte Regiearbeit Air – Der große Wurf die Academy-Wähler begeistern. Davon könnt Ihr Euch bald selbst überzeugen, denn nach dem Kinostart letzten Monat wird Air ab dem 12. Mai auch bei Amazon Prime im Abo zu sehen sein.
Als Schauspieler mag Affleck eine wechselhafte Karriere haben, als Regisseur zeigte er jedoch bereits mit seinem Erstling Gone Baby Gone großes Talent. Auch sein zweiter Film The Town – Stadt ohne Gnade kam super an und sein Drittwerk Argo gewann schließlich auch den Oscar als "Bester Film", auch wenn Affleck selbst als Regisseur bizarrerweise nicht einmal nominiert war. Sein vierter Film Live by Night ist vielleicht seine einzige (leichte) Enttäuschung als Filmemacher, doch diese macht er mit Air mehr als wett. Der Film erzählt die Geschichte der historischen Partnerschaft zwischen Nike und Michael Jordan, die zur Geburt der "Air Jordan"-Marke führte, von der beide Parteien enorm profitiert haben. Nike musste Jordan hart umwerben und setzte alles auf eine Karte, in einer Zeit, in der die Konkurrenz von Converse und Adidas die Marktführer waren.
Wenn Ihr findet, dass die Geschichte auf Papier trocken und langweilig klingt, dann kann ich Euch versichern, dass es mir genauso ging, als ich gelesen habe, worum es in dem Film geht. Kann ein Film, der größtenteils in Büroräumen spielt, in denen die Schauspieler sich einen Dialog-Schlagabtausch nach dem anderen liefern oder telefonieren, überhaupt packend sein? In den Händen eines verdammt guten Filmemachers auf jeden Fall! Mit The Social Network hat uns David Fincher schon gezeigt, dass nicht das Thema, sondern die Umsetzung die entscheidende Rolle spielt.
Diese ist bei Air wieder makellos. Affleck zieht alle Register und schafft es, dass die zwei Stunden Laufzeit ohne jegliche Actionszenen oder Verfolgungsjagden wie im Flug vergehen. Dabei spielt er als Nike-CEO Phil Knight selbst eine Nebenrolle, während sein alter Kumpel Matt Damon als Sonny Vaccaro, der Jordan letztlich überzeugen konnte, die Hauptrolle übernommen hat. Auch die restliche Besetzung aus Chris Messina (Birds of Prey), Chris Tucker (Rush Hour), Jason Bateman ("Ozark"), Jay Mohr ("Ghost Whisperer"), Marlon Wayans (Scary Movie), Gustaf Skarsgård ("Vikings") und Viola Davis (Fences) als Jordans Mutter ist fantastisch. Air ist die erste Produktion von Artists Equity, der gemeinsamen Produktionsfirma von Affleck und Damon, mit der sie Filme erschaffen wollen, die sie selbst gerne im Kino sehen würden.
Ein starbesetzter Ensemblefilm mit historischem Setting wie dieser ist nicht billig und Amazon Studios ließ rund $90 Mio Budget sowie weitere $40 Mio an Marketing für den Film springen, darunter einen $7 Mio teuren Super-Bowl-Spot. Ursprünglich sollte Air bei Prime direkt in den Stream gehen, doch nach sehr positiven Testvorführungen hat Amazon den Film Anfang April als erster Streamer überhaupt bei einer Eigenproduktion einen ganz regulären weltweiten Kinostart mit einem exklusiven Kinofenster spendiert. Leider lässt sich die Geschichte, die sich auf Papier eben nicht so aufregend liest, nicht so gut an Mainstream-Kinogänger verkaufen und Air spielte bislang rund $80 Mio weltweit ein. Angesichts der oben aufgeführten Ausgaben macht ihn das zwar zu einem Kassenflop, Jeff Bezos' Konzern kann sich das aber leisten und hat sich mit der Kinoauswertung eine gute Portion Respekt und Prestige verdient.
Diesen Monat wird Air schließlich bei Amazon Prime landen, 37 Tage nach dem US-Kinostart des Films. Auch wenn Euch vielleicht die Geschichte des Werbevertrags von Nike und Michael Jordan nicht sonderlich interessiert, kann ich Euch sehr ans Herz legen, dem Film eine Chance zu geben, um zu sehen, wie gut Affleck sein Handwerk beherrscht.
Mit Blick auf die einen Einspielergebnisse könnte man meinen, dass Amazons Kino-Experiment mit Air nicht geglückt sei, ich glaube aber, dass es dennoch ein wichtiger Schritt war und letztlich auch ein Marketing-Instrument für die spätere Auswertung des Films im Stream. Ich bin sicher, dass deutlich mehr Leute von Air jetzt gehört und gelesen haben, auch wenn sie ihn nicht im Kino gesehen haben, als wenn er direkt bei Prime veröffentlicht worden wäre und sie werden dann vermutlich die Gelegenheit ergreifen, Afflecks neuste Regiearbeit gemütlich zu Hause zu schauen. Apple hat sich kürzlich auch verpflichtet, eine Milliarde US-Dollar jährlich für auszugeben, seine großen Filme exklusiv in die Kinos zu bringen. Im Herbst werden es u. a. die kostspieligen Oscarkandidaten Napoleon von Ridley Scott und Killers of the Flower Moon von Martin Scorsese sein.