Achtung, die folgende Kritik enthält massive Spoiler zu der dritten Staffel von Boardwalk Empire!
Entgegen meinem gemeinhin suchtähnlichen Sehverhalten bei Serien, das mir bereits viele Serien-Marathons beschert hat, fiel ich nach dem letzten Vorhang der zweiten Staffel von Boardwalk Empire in ein tiefes Motivationsloch. Die Luft war raus, der Hunger nach mehr Boardwalk Empire war erloschen. War die Staffel etwa so schlecht? Mitnichten! Was also war passiert? Jimmy, eine der tragenden Säulen der Serie, wurde im Finale der zweiten Staffel in den Mobster-Himmel hochgeschossen. Ein konsequenter und mutiger Weg, den Showrunner Terence Winter damals einschlug, und dennoch war die Lust auf die Serie verflogen, nachdem man einen der beliebtesten Charaktere von Boardwalk Empire in den Vorruhestand schickte, was bei vielen Zuschauern auf großen Unmut stieß. Nach einem Jahr der Erholung von dem einschneidenen Ereignis stand nun also für mich die dritte Staffel auf dem Programm. Und bereits nach der ersten Folge war mein Hunger wieder entfacht und schnell wurde klar: Jimmys Serienexitus, so bedauerlich er auch war, setzt neue Kapazitäten frei, die in der dritten Staffel sehr clever ausgenutzt werden. In die immense Lücke, die Jimmy hinterließ, stoßen nun andere, bekannte Gesichter hinein, darunter Al Capone, Nelson van Alden und ganz besonders Richard Harrow.
Dass sich Serienschöpfer und Head-Writer "Terry" Winter, der schon für Die Sopranos fleißig schrieb und hinreichend Erfahrung in dem Milieu hat, nicht von Folge zu Folge schleppt wie die Autoren von Lost, sondern von Beginn an einen Masterplan in der Schublade hatte, wird jetzt erst deutlich. Das genannte Trio war von Anfang an (Richard kam etwas später hinzu) eines der interessantesten Puzzleteile der Serie, alle drei brannten darauf, die nächste Stufe in ihrer Entwicklung zu betreten, doch im Schatten von Nucky, Margaret und Jimmy war die Luft sehr dünn, daher verschob man sicher nicht ohne Kalkül im Hinblick auf Jimmys Tod die weitere Entwicklung der Figuren auf die Zeit nach dem Bruch zwischen Season zwei und drei. Nun also werden die Figuren endlich emanzipiert, Al Capone entwächst seinen Kinderschuhen und vollzieht den Wandel vom belächelten Torrio-Laufburschen zum Mobster-Boss von Chicago, Richard legt endlich seine Scham nieder und öffnet sich für andere Menschen, und van Alden streift langsam seinen sittenstrengen, verklemmten religiös-fundamentalistischen Anzug ab und manövriert, von seinem Umfeld provoziert, in eine emotionale Explosion, die uns alle daran ermahnt, dass man lieber niemanden verspottet, der gerade ein heißes Bügeleisen in der Hand hält.
Überhaupt ist die dritte Staffel eine Geschichte über Emanzipation. Auch Margaret versucht sich von den Fesseln ihres Lebens zu lösen und ruft einen Unterricht zur Schwangerschaftsaufklärung aus, ihre Bemühungen werden aber letzten Endes ebenso zerschlagen wie ihre Inspirationsquelle, Carrie Duncan, eine Rekordpilotin, die sich in einer Männerdomäne Respekt verdient hat, später aber bei einem weiteren Rekordversuch ihr Leben lässt. Margarets Identitätskrise bleibt hingegen auch in der dritten Staffel omnipräsent und schwebt über allem, was sie tut, und das verlangt dem Zuseher mittlerweile einiges an Durchhaltevermögen ab. Die heimliche Affäre mit Owen treibt den Gähnpegel schließlich auf einen neuen Höchststand, zu durchschaubar war das jähe Ende dieser jungen Liebe, oder wer hätte ernsthaft erwogen, dass Margaret die Kurve kratzt? Owens Ende in der Holzkiste, nach dessen Ermordung im Off-Screen, hielt zumindest noch einen Überraschungseffekt bereit, der Kelly Macdonald in einer sehr emotionalen Szene alles abverlangte.
Auch das Ende von Gyp Rosetti war nicht so überraschend, der geschmeidige Italiener war freilich nur ein Zwischenspiel in der Ära Nucky Thompson, das für zwölf Episoden genügte. Dennoch trug der Newcomer eine gewisse Dynamik in die Staffel hinein, die vormals gefehlt hat. Der hypersensible Prolet mit sadomasochistischen Vorlieben macht Nucky das Leben enorm schwer, bei der leisesten, oft falsch gedeuteten Provokation schlägt Gyps Gemüt in blinde Wut um, die zu Gewalt führt, dagegen sehen sogar die Hitzköpfe Tommy DeVito (Goodfellas) und Paulie Gualtieri (Die Sopranos) aus wie fromme Mönche. Die Schaufelszene am Strand in der zehnten Episode "A Man, A Plan" war besonders hart und schlägt ein neues Kapitel der Brutalität in Boardwalk Empire auf.
Der Kleinkrieg mit Rosetti fördert auch einige noch nicht gekannte Seiten von Nucky zu Tage. Der Boss im Empire betritt nach der Ermordung von Ziehsohn Jimmy nun eine neue Stufe der Grausamkeit: er richtet einen Buben, der ihm ein paar Kisten mit Alkohol gestohlen hat. Trotz dieser Bemühungen um die Progression der Figur tritt Nuckys Charakter in Staffel drei aber mehr oder minder auf der Stelle, andere Charaktere, etwa Richard, haben ihn auf meiner persönlichen Favoritenliste längst überrollt. Schuld daran ist vor allem der schrecklich triviale Plot von Nuckys Schwärmerei für Showgirl Billie Kent, der schlimmste Staffel-Filler meiner Meinung nach. Die Figur Billie lässt sich im Grunde nur auf einen Trick der Autoren runterbrechen, der dem Zuschauer suggeriert, dass Nucky einen empfindlichen Verlust einstecken musste, nachdem seine Mätresse in einem großen Feuerwerk verheizt wurde. Genauso wie die Figur bleibt auch die gesamte Szene auf dem Boardwalk Sekunden vor dem Anschlag auf Nucky ein Produkt der Phantasielosigkeiten: Zufällig wird Nucky auf der Promenade von einem alten Bekannten aufgehalten und schickt hiernach Billie vor ins Babette’s, dem Anschlagsziel. Lucky und Rothstein flanieren natürlich brav weiter auf dem Boardwalk, die werden schließlich noch für die vierte Staffel gebraucht. Nucky und Billie werfen sich noch einmal bedeutungsvolle Blicke zu, als würde die Welt gleich untergehen – dann der große Knall.
Dergleichen Zufälle gibt es in der dritten Staffel zu viele, etwa van Aldens Stelldichein mit der Mafia von Chicago, der, wie der Zufall so spielt, genau zur richtigen Zeit in den Blumenladen von Mobster-Boss O' Bannon reinschneit und ihm den Arsch vor Al Capone rettet. Chicago ist ja ein Dorf, möchte man meinen. Dass van Alden irgendwie wieder in den Gangster-Alltag zurückgeschrieben werden musste und nicht als Bügeleisenvertreter sein Dasein fristen konnte, war klar, das hätte man aber eventuell geschickter lösen können. Die Möglichkeit dazu hat man allerdings schon in der zweiten Staffel versäumt, Reparaturversuch in Staffel drei ist leider nur halbgar.
In New York braut sich derweil auch einiges zusammen. Lucky Luciano uns sein Partner Meyer Lansky ziehen ihr eigenes Heroin-Geschäft auf und schneiden schrittweise die Nabelschnur zu Rothstein durch. Auch die beiden sind Profiteure von Jimmys Absenz und erhalten mehr Gewicht in Staffel drei. Die Verpflichtung von Jeffrey Wright, der in der vierten Staffel eine Hauptrolle als Gangster-Boss von Harlem (Stadtteil von New York) spielen wird, und die mögliche Verhaftung von Rothstein, die im Staffelfinale angedeutet wurde, legen nahe, dass Lucky und Meyer demnächst noch mehr Bedeutung zufällt. Die Figuren sind noch relativ platt mit wenig Persönlichkeit, besonders Lucky wirkt momentan nur wie ein billiges Abziehbild von Al Capone, in den beiden schlummert aber gewiss noch Potential, das ausgebaut werden will. Ebenfalls eine wichtige Rolle in der dritten Staffel nehmen der grimmige Chalky, der Nucky in einer schweren Lage hilft, und Gillian ein, die sich langsam zu einer wahrhaftigen Femme fatale mausert und alle Männer in ihrem Dunstkreis ins Unglück stürzt. Der arme Bursche, dem seine Ähnlichkeit mit Jimmy zum Verhängnis wurde – man konnte mit ihm fühlen.
Das Ende der Kurzherrschaft Rosettis in Atlantic City und damit quasi das Ende des umspannenden Konflikts in Staffel drei wird dann ausgerechnet vom sonst so reservierten Richard besiegelt, der im Alleingang beinahe alle Männer von Rosetti im Artemis Club erledigt, um Jimmys Sohn Tommy aus seinem vergifteten Umfeld zu befreien. Zugegeben, etwas überdramatisiert das Ganze, aber dafür ein schöner runder und effektvoller Abschluß der Staffel. Das blutige Gemetzel in der letzten Folge "Margate Sands" wurde von HBO-Stammregisseur Tim van Patten, der zuvor bereits die achte Episode "The Pony" über das Attentat auf Nucky inszeniert hat, umgesetzt. Immer wenn’s brenzlig wird, vertraut Terry Winter auf die Geschicke von Tim van Patten, der bisher alle Season-Opener und Staffelfinals für Boardwalk Empire inszeniert hat, mit Ausnahme der Pilotfolge, die, sicher auch zu Werbezwecken, Mitproduzent und Starregisseur Martin Scorsese zu Teil wurde.
Fazit:
Die dritte Staffel hält einige interessante neue Charaktere bereit und überzeugt weiterhin mit authentischen Kulissen, präziser Figurenzeichnung und starken Darstellern. Nebenfiguren der ersten Stunde werden immer wichtiger und lösen sich nun endlich von den Banden ihrer Leben. Unter der Prämisse der Alkoholprohibition, die man sich auf die Fahne schrieb und der alle Figuren in irgendeiner Form untergeordnet werden, fällt es den Autoren allerdings zunehmend schwerer, alle Charaktere seriös in die Geschichte einzubinden.