Die Karriere des gebürtigen Berliners Ronald Zehrfeld könnte kaum einen besseren Verlauf nehmen. Erst 2006 feierte er sein Kinodebüt mit Dominik Grafs Coming-Of-Age-à-la-DDR-Film Der rote Kakadu. Nur drei Jahre später spielte er bereits den berühmte-berüchtigten Piraten Klaus Störtebeker, an der Seite von Matthias Schweighöfer in 12 Meter ohne Kopf. Die bislang größte Anerkennung seitens der Kritik gelang ihm aber mit seinem Auftritt als ein Kinderarzt in einer DDR-Provinz in Barbara, Christian Petzolds Gewinner des Silbernen Bären 2012. Für seine Performance wurde Zehrfeld als "Bester Nebendarsteller" für den Deutschen Filmpreis nominiert. Aktuell ist er in einer mutigen Rolle im deutschen Episodenfilm Finsterworld zu sehen (seit 17.10. im Kino). Aus diesem Anlass stand der Mime uns Frage und Antwort und erklärte seine Ansichten zur Offenheit in der Beziehung, den Problemen der modernen Kommunikation und den Nachteilen des schnellen technischen Fortschritts.
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„Finsterworld“ spielt in einer Art Scheinwelt. Ein Sprichwort besagt, wer einem Menschen den Schein nimmt, wird sehen, wie schnell auch sein Leben ein Ende hat. Kann der Mensch nicht ohne Schein?
Ich glaube, dieses Zitat ist im Großen gemeint. In unserer Gesellschaft definieren wir uns sehr oft über das Äußere – über Produkte, Kleidung oder andere, materielle Dinge. Wenn man diesen "Schein" im Sinne des Äußerlichen weg lässt, was bleibt dann also noch übrig? Nackt in der Sauna sind wir erst mal alle gleich – egal ob Manager oder einfacher Arbeiter. Das Zitat kann im negativen Sinne also bedeuten, ohne den Schein ist der Mensch nicht mehr da, was manchmal sicherlich der Realität entspricht und ein sehr trauriges Zeichen für die Gesellschaft wäre. Will man der Aussage aber einen positiven Aspekt abgewinnen, dann kann man wohl genauso davon ausgehen, dass hier der Schein aus dem Inneren heraus gemeint ist. Von Innen heraus zu scheinen ist für jeden Menschen wohl das oberste Ziel. Wenn jemand leuchtet, etwas zu sagen hat und auf den äußeren Schein verzichten kann, sich selbst in seiner Würde und Wirkung aber trotzdem nicht verliert, also auch ohne die Äußerlichkeit noch immer scheint, dann ist das wohl das höchste.
Dein Charakter Tom gibt in „Finsterworld“ den äußeren Schein auf und gesteht seiner Partnerin ein Fetisch. Hältst du das Verschweigen derartiger Dinge innerhalb einer Beziehung für verwerflich?
Das heimliche Dasein meiner Figur in der Furry-Welt ist im Grunde ja aus eben dem Mangel an Kommunikation und Zärtlichkeit heraus entstanden. Tom lebt mit seiner Frau zusammen, beide sind aber derart in ihrer eigenen Welt gefangen, dass sie keine gemeinsame haben können. Sie ist in ihrer Dokumentarfilmwelt gefangen, er in seiner beruflichen Tristes und der Sehnsucht nach Nähe zu ihr, die er einfordern möchte, aber nicht bekommt. Tom sucht sich daraufhin einen neuen Raum, um sich selbst wieder neu fühlen zu können. Er hat in dieser Fetisch-Welt also etwas gefunden, das ihm gefehlt hat und ich finde, es spricht klar für ihn, dass er seiner Frau diesen Fetisch aus Ehrlichkeit und Liebe heraus gesteht. Natürlich ist das eine Frage des Blickwinkels. Bestimmt gibt es Fetische, die man für sich behalten kann, sollte oder darf. Aber in Toms Fall geht es viel eher um den Mangel an Kommunikation untereinander, der vollkommen absurde Formen annehmen kann. Man redet nur noch an einander vorbei und kann sich nicht mehr in die Augen schauen, sodass man einander gar nicht mehr wahrnimmt. Tom fragt seine Frau bei einem Streitgespräch ja sogar: „Siehst du mich eigentlich?“ Er möchte sich ihr also offenbaren und eigentlich will sie dasselbe. Sie will ihm erklären, wie schwer es ist, den Menschen hinter all dem Schein noch zu sehen. Sie haben also beide eine ähnliche Sehnsucht, sind aber trotzdem nicht in der Lage, auf den Punkt zu kommen.
Wie schwer ist es, einen anderen Menschen wirklich zu sehen?
Vielleicht kann man jemanden nie zu 100 % sehen, aber einander im Zusammenleben einen gewissen Grad an Wachheit entgegenzubringen, hilft mit Sicherheit. Jeder entscheidet abends vor dem Einschlafen doch irgendwie: „Bin ich zufrieden mit meinem Leben und den Entscheidungen, die ich täglich treffe? Haben sich meine Wünsche erfüllt, sind meine Ängste eingetroffen und kann ich mich meinem Partner gegenüber öffnen, um diese Wünsche und Ängste zu teilen?“ Im Idealfall ist das der Fall, sodass man sich von seinem Partner wahrgenommen fühlt, was wiederum für die Beziehung spricht. Im Negativfall können unterschiedlichste Gründe vorliegen, die einem das Öffnen gegenüber dem Partner unmöglich machen, was einen dann vielleicht an der Beziehung zweifeln lässt. Die Entscheidung, eine Beziehung zu beenden, weil man sich nicht gesehen fühlt, geschieht immer aus Mangel und Sehnsüchten heraus. Wichtig ist, diese Sehnsüchte dann auch zu verfolgen und sich zu fragen: „Warum ist das so? Warum fühle ich mich unwohl?“ Was dann geschieht, ist wohl sehr charakterabhängig. Nicht jeder ist stark genug, seine Ängste wirklich zu benennen. Manche Leute würden charakterbedingt gar nicht in die Lage kommen, dem Partner offen zu sagen, was sie sich wünschen oder was sie verändern wollen. Ein derart offenes Gespräch wäre selbstverständlich der Idealfall, aber in unserer Überflussgesellschaft haben wir alle eine derartige Masse an Möglichkeiten, dass wir damit schon schnell überfordert sind, weil wir uns im Konsum verlieren.
Man sagt, will man einen anderen sehen, muss man alles vergessen, was er jemals gesagt oder getan hat, um ihn in jedem Moment und immer wieder neu als den, der er gerade ist, zu erleben. Was hältst du von dieser Haltung?
Das wäre wohl der Idealfall. Wer bis oben hin mit Erwartungen an jemanden angefüllt ist, wird denjenigen wohl kaum mehr sehen können. Vielleicht ist das die große Tragik der Menschheit. Trifft ein Mensch die Entscheidung, seinen Partner etwas Bestimmtes zu fragen oder ihm etwas zu sagen, dann denkt er meist fälschlicherweise schon für den Partner mit. Man spielt die Situation ganz automatisch im Geiste durch und gibt der Realität gar keine Chance, sodass leicht Missverständnisse entstehen. Wenn solche Missverständnisse dann im besten Falle aufgeklärt werden, heißt es oft: „Achsooo, du hast gedacht, ich hätte gedacht… – warum hast du denn nichts gesagt?“ Die Antwort ist dann meist, man hätte gedacht, der andere würde sofort dicht machen, würde man sich ihm anvertrauen. In solchen Situationen bemerkt man, dass man fälschlicherweise für den anderen vorgedacht und sich den Ausgang der Situation in der Fantasie zusammengesponnen hat. Man ist oft einfach nicht in der Lage, zu erkennen, was und wer man selbst ist und wer der Partner. Die Antworten, die man sich in der Fantasie zusammenspinnt, können ja nur von einem selbst stammen, der Partner ist nun mal eine andere Person. Ich glaube, dass es wichtig ist, sich das immer wieder zu vergegenwärtigen, um im Gespräch neutral und ohne diese Art der Erwartungshaltung auf den Partner zuzugehen.
Ist das Ausschalten aller Erwartungshaltungen ein rein theoretisches Ideal-Konzept, oder ist es dauerhaft umsetzbar?
Ich glaube, dass es durchaus umsetzbar ist, aber ich denke nicht, dass es sich dabei um eine allgemein gültige Formel handelt, die von einem Menschen konstant realisiert werden kann. Wenn man es auch schafft, diese Art von Erwartungen in der einen Situation auszuschalten, dann wird das mit Sicherheit nicht ein Leben lang anhalten. Jemand anderen zu sehen ist nichts, das man sich einmal erarbeitet und dann beherrscht. Viel eher ist es ein Prozess, der permanent und immer wieder eingefordert werden muss. Ich denke, es geht dabei viel ums Hinterfragen. Um den anderen immer wieder und in jeder Situation neu wahrzunehmen, muss man sich wahrscheinlich konstant die Frage stellen, ob man sich selbst gerade etwas vor macht. Hinzu kommt die Frage danach, ob man bei dem, das man von sich gibt, tatsächlich ehrlich ist. Im ersten Moment kann die Wahrheit weh tun und nicht jeder kann die Wahrheit in einem solchen Falle benennen, auch, wenn sie längerfristig vielleicht die bessere Wahl ist und der Partner nach ein paar Tagen womöglich sagt: „Gut, dass du mir das gesagt hast!“ Wahre Größe ist es, dem anderen seine Ängste mitzuteilen. Auch wenn der im ersten Moment vielleicht nicht damit umgehen kann, wird er es nach einiger Zeit vielleicht lernen – zwar kommt das bestimmt auch auf den Charakter und die Person an, aber die Chance besteht.
Ist es schwer, in der modernen Gesellschaft Schwäche zu zeigen?
Eines der größten Mankos unserer Gesellschaft ist die Auffassung, Schwäche zu zeigen sei ein Fehler. Wir definieren uns zu sehr über das Außen und sagen Dinge wie: „Ich habe dieses und jenes! Ich kann dies und das! Ich weiß das und das!“ In einer solchen Art der Kommunikation wird der Gesprächspartner fast schon in die Defensive gezwungen, weil er nur mehr denken kann: „Der ist aber toll! Der hat aber viel! Was habe ich denn eigentlich?“ Beginnt man ein Gespräch damit, dass man eine Angst, oder ein Problem schildert, dann wird der andere kaum defensiv reagieren, sondern vielleicht seine Erfahrungen teilen und erzählen, wie er ein ähnliches Problem gelöst hat. Eine solche Kommunikation ist offener und ehrlicher, sodass ein tatsächliches Gespräch entstehen kann. Das gegenseitige (Ver-)Kennen innerhalb einer Gesprächssituation ist wohl eine Art Damoklesschwert, das immer über menschlicher Kommunikation schwebt. Man muss sich wohl einfach wieder und wieder ermahnen: Ich bin so und der andere ist nun mal anders. Es ist mit Sicherheit hilfreich, im Gespräch immer wieder die Reset-Taste zu drücken und den anderen zu fragen, wie er eigentlich zu dem steht, das man gerade geäußert hat. Tut man das, hat man wohl zumindest den richtigen Weg eingeschlagen. Von da an ist dann individuell, tagesformabhängig und charakterabhängig, was geschieht. Manche sind nun mal introvertiert, andere sind extrovertiert und reagieren in der Situation deswegen vielleicht anders als erstere. Was aber jeder tun kann, um den anderen zu sehen, ist das Aufmerksam-Sein. Dranbleiben und wachbleiben, dann ist der Grundstein für ein wahrhaftiges Gespräch gelegt.
Im Film gehen die Männer besonders liebevoll mit Tieren um. Was steht dahinter?
In „Finsterworld“ wird den Männern über die Tiere Raum angeboten, sich selbst zu definieren, was nicht unbedingt förderlich ist. Die Tiere reden ja nicht und der Fehler ist hier, dass man an den Tieren bestimmte Eigenschaften festmacht und von ihnen bestimmte Charakterzüge erwartet, die sie vielleicht gar nicht haben. Es gibt doch beispielsweise Beziehungen, die schaffen sich lieber einen Hund an, als ein Kind, weil sie sich vor der Verantwortung fürchten. Das Kind redet und man müsste definitiv auf Fragen antworten. Zum Beispiel muss man die Angst überspielen, dass man auf bestimmte Fragen vielleicht keine Antworten hat. In solchen Fällen ist die Anschaffung von Tieren eine Ersatzhandlung, um sich dem Dahinter nicht stellen zu müssen. Tiere nimmt man als pflegeleicht und kuschlig war. Man nimmt an, man könne von ihnen bekommen, was man sich egoistischerweise wünscht und sie bei Problemen einfach wieder wegpacken. Sie können ihre Probleme ja nicht artikulieren. Der Hund wird also niemals zu einem sagen: „Du behandelst mich schlecht – eigentlich müsste ich 5 Mal am Tag Gassi gehen.“ Was also in der Beziehung zwischen Mensch und Tier fehlt, ist die tatsächliche Kommunikation, die für alle zwischenmenschlichen Beziehungen wiederum ein großer Segen ist, aber ein genauso großer Ballast. Oft verschließen wir uns vor einander, weil wir Angst vor diesem Ballast, vor dem Reden miteinander haben.
Über deine Figur Tom wird im Film artikuliert, dass die moderne, deutsche Gesellschaft das ehrliche und intentionslose Berühren – körperlich und seelisch – verlernt hat. Welche Ängste stehen dahinter?
Ich glaube, eine Antwort auf diese Frage wird sehr schnell philosophisch – im Grunde muss man hier beim Urstein ansetzen. Das Schöne ist schon mal, dass seit dem 2. Weltkrieg in Deutschland keine Bombe mehr gefallen ist, zumindest unabhängig von der Stasi- oder RAF. Wir leben also in einer Gesellschaft, in der wir Frieden haben. Wir leben aber auch in einer Konsumgesellschaft, in der es 10 Sorten Zahnpasta gibt, obwohl wir eigentlich nur eine einzige brauchen. Schon alleine damit sind wir überfordert. Ich denke, die große Herausforderung unserer Zeit ist die Bewältigung des Wandels von Produktionsgesellschaft zu Dienstleistungsgesellschaft. Jeder muss heute auf der gesellschaftlichen Spur funktionieren, um einen Job zu kriegen, um ihn zu halten, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und seine 23 Tage Urlaub zu planen. Damit das alles funktioniert, sind wir immer erreichbar – über Handy oder Internet – und das bringt uns an den Anschlag. Die von der Moderne geforderte, ununterbrochene Erreichbarkeit nimmt uns die Möglichkeit, zu entschleunigen und uns selbst zu erreichen. Es ist heute Luxus, kein Handy zu haben und nicht erreichbar zu sein.
Überwiegt also die negative Seite des technischen Fortschritts?
Was eigentlich eine Erleichterung hätte sein sollen, ist zu einer unglaublichen Belastung geworden, die uns fast schon krank macht. All diese technischen Features werden von der Wirtschaft als Fortschritt und Errungenschaft verkauft. Sie sollen uns mehr Freiheiten geben, aber eigentlich nehmen sie uns die Freiheit. Die Debatte um das Technologie-Zeitalter ist ja auch in den Medien eine aktuell höchst relevante. Haben wir tatsächlich Fortschritt erreicht, oder verkümmern wir mit dem technischen Fortschritt? Verkümmert unsere Sprache, weil unsere Kinder nur noch Chat-Sprache beherrschen oder verkümmert der Körper, weil die meisten Kinder nur noch vor Video-Spielen sitzen und nicht einmal mehr rückwärts laufen können? Früher sind die Kinder über Zäune geklettert, sie haben Bäume bestiegen und Kirschen geklaut. Sie haben Räuber und Gendarme gespielt und waren körperlich aktiv. Heute dagegen sieht man Kinder oft verkümmern. Kann der technische Fortschritt also wirklich Luxus sein, wenn er mit Verkümmerung verbunden ist?
Du hast selbst ein Kind. Was ist dir in der Erziehung besonders wichtig?
Ich versuche, meiner Tochter beispielsweise bewusst zu machen, dass das ein Leben, wie es hier in Deutschland möglich ist, keine Selbstverständlichkeit ist. Wir haben dabei das Glück, dass ich meiner Tochter durch meinen Beruf ermöglichen kann, in andere Länder zu reisen, wo sie dann einen Blick auf andere Kinder bekommen kann, deren Lebensstandard dem deutschen nicht einmal am Rande gleicht. Angenommen, wir reisen nach Afrika, dann kann sie zum Beispiel beobachten, wie andere Kinder mit alten Reifen spielen. Sie kann so selbst über den Tellerrand heraus blicken und ich muss ihr keinen Vortrag mehr darüber halten, dass es da noch eine andere Welt gibt – sie erfährt es selbst. Ein solches Bewusstsein ist mir in der Erziehung sehr wichtig.
von Sima Moussavian
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Finsterworld (unsere Kritik) läuft seit dem 17.10. in den deutschen Kinos.