The Broken Circle (The Broken Circle Breakdown), BE/NL 2013 • 100 Minuten • Regie: Felix Van Groeningen • Mit: Veerle Baetens, Johan Heldenbergh, Nell Cattrysse, Geert Van Rampelberg, Nils De Caster • FSK: ab 12 Jahren • Kinostart: 25.04.2013 • Verleih: Pandora Filmverleih • Deutsche Website
Ist es der Schmerz, der uns tötet? Reiner Schmerz, körperlich erduldet, leidlich ertragen, nie akzeptiert. Oder ist es die Gewissheit, dass der Schmerz hätte verhindert werden können? Er lässt nicht nach. Niemals. Er wütet, bis wir kämpfen. Bis wir gewinnen, wir siegen, wir nicht nachgeben, wir immer und immer weiter aufrecht stehen bleiben und kämpfen und gewinnen und siegen und nicht nachgeben. Wie der Sieg aussieht, als letztliche Definition – das bleibt für ewig verborgen. Und so fragt man sich nach dem Ende von The Broken Circle, wer diesen Kampf gewonnen hat. Hat das überhaupt jemand? So der Tod das Unausweichliche in unserer aller Leben ist, so der Tod unbezwingbar ist im Kampf, schreitet ein Niemand siegreich in diesem Kampf hervor. Doch davor und danach obliegt es uns, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Wenn wir es nicht machen, bleibt unser Leben ohne Sinn. Bis zum bitteren Ende.
Ein Ende ersehnten sich Elise (Veerle Baetens) und Didier (Johan Heldenbergh) oft. Denn ihre Tochter Maybelle hat Krebs. Sie ist sechs Jahre alt. Sechs. Krebs. Ein Kind.
Und Tod.
Maybelle stirbt. Als sie ohne Haare im Krankenhaus liegt, da erklärt ihr Didier, was Sterne sind. Eigentlich, so sagt er, schauen wir Sterne an, die längst nicht mehr existieren, aber ihr Schein erst jetzt unsere Augen erreicht. Und selbst wenn der Stern erlischt, so glimmen tausend andere auf. Es so ist, als wäre er nie weg gewesen. Er ist erloschen, er ist tot, er ist nicht mehr da, und doch sehen wir ihn jeden Tag.
Vielleicht ist das das Problem von Elise und Didier. Jeden Tag hallt der Schmerz nach, er verschwindet nie. Maybelle ist fort, aber sie ist noch da wie der Stern, der starb. Ein erloschenes Leben ist kein vergessenes Leben – es ist lediglich vergangen. Der belgische Regisseur Felix Van Groeningen erzählt in The Broken Circle genau davon; von dem breiten Abgrund, der sich auftut, wenn Eltern ihr Kind verlieren; von dem Leben danach, obgleich ein Leben danach keinen Sinn zu haben scheint; von dem Kampf gegen den Schmerz, der einen ins Verderben führt.
Wo Tod ist, war vorher Leben, pralles, leidenschaftliches, wunderschönes Leben. Elise, tätowiert am ganzen Körper, trifft auf Didier, Rauschebart mit Hippie-Mähne. Elise, gläubig mit Kreuz um den Hals, liebt Didier, der Religionen verabscheut. Und doch schlafen sie miteinander mit einer solchen Liebe, mit einer solch puren Hingabe, dass Unterschiede hier keinen Platz mehr haben. Hier lieben sich zwei Menschen, die ihr passendes Gegenüber gefunden haben.
Geradezu erschütternd authentisch ist es dann auch, wenn Didier nach dem ersten Mal Sex wieder auf Elise trifft, von der er dachte, er habe sie verloren. Als sie zurückkehrt, da zittert er, als er sein Mädchen, seines ganz allein, auf der Motorhaube seines Autos erblickt. Er zittert, weil er dachte, den Kampf gegen die Einsamkeit verloren zu haben. Doch jetzt hat er gewonnen, er hat seine Elise, er hat sein Glück, zitternd ist er trunken vor Liebe.
Eine archaische Wucht und unheimliche Perfektion liegt im Zusammenspiel der beiden Hauptdarsteller. Baetens und Heldenbergh spielen grundverschiedene Persönlichkeiten, bei denen eine gemeinsame Harmonie utopisch erscheint. Wenn sie einander in die Augen blicken, auf der Bühne stehen und Country-Musik spielen, verschwindet jeder Zweifel. Sie singen nicht nur brillant, sie geben ihren Rollen die notwendigen Facetten von Schmerz – mal laut, mal leise, mal bitterböse, aber immer intensiv – und explodieren auf eine Art, die die Emotionen nicht darstellt – sondern dem Zuschauer selbst einverleibt. Sobald Heldenbergh seinen leicht debilen Blick aufsetzt und wie ein Tölpel in all seinem Tun wirkt, fühlen wir dasselbe, wir erleiden dasselbe. Und wünschen uns sofort, es nie wieder tun zu müssen. Es bricht uns das Herz. Wir wollen diesen Kampf nicht führen.
Zur Gänze passend beschreiben lässt sich The Broken Circle nicht. Vor und zurück springt Regisseur Van Groeningen und verrät erst Minuten später, was wir gesehen haben. Warum etwa fährt Didier einem Krankenwagen hinterher? Plötzlich sehen wir eine noch gesunde Maybelle, der ihr erster Schultag bevorsteht. Schon da zeichnet sich etwas ab: die Krankheit, der Krebs, der Kampf.
Während also im einen Moment Elise und Didier sich beschimpfen und streiten, nachdem Maybelle verstarb, folgen Szenen aus der Kennenlern-Phase der beiden. Wie sie innigen Sex haben, wie Elise sich Didiers Namen hat tätowieren lassen, wie sie auf der Bühne stehen und gemeinsam singen.
Singen, oh ja, dieses unbeschwert Großartige an diesem Film. Elise schließt sich Didiers Bluegrass-Band an, belebt sie mit ihrer zarten Stimme. Passend zur gerade herrschenden Stimmung der Charaktere, tritt die Band auf und unterstreicht die Gefühlslage mit nervenaufreibenden Country-Klassikern wie Johnny Cashs „Will the Circle be Unbroken“. So fühlt man sich schlecht, zunächst vielleicht, wenn man das Lied summt, mit dem Kopf nickt und die Augen schließt, um sich der musikalischen Erhabenheit bewusst zu werden oder um gar die Emotionen von Didier und Elise erst zu verstehen. Zuhören, versinken, ja, erst dann folgt das Verstehen. Öffnen sich dann wieder die Augen, erblickt man Elise und Didier auf der Bühne und dann haben sie das Leid, die Freude gezeichnet am gesamten Leib. Zerbrochen im Jetzt, vereint zuvor.
Wenn Van Groeningen es schafft, innerhalb der ersten halben Stunde mit Hilfe dieser Musik eine so wundervoll anmutige wie zauberhafte Szene zu schaffen, die – obwohl eine Verbindung zu den Protagonisten noch nicht gefestigt ist – trotzdem die Tränen in die Augen schießen lässt, herrje, lässt sich die Macht der Musik selbst ohne Kitsch-Orchester zumindest erahnen. So ist es die kleine Maybelle, die nach ihrem Krankenhausaufenthalt nach Hause geht und ein Ständchen bekommt, die Glückliche, die in diesem Moment durch Musik den Kampf gegen den Schmerz gewonnen hat. Nicht gewonnen im Sinne einer letzten Schlacht – gewonnen hat sie dennoch, in diesem Augenblick nämlich viel Liebe, viel Hingabe, viel Leben.
Nach ihrem Tod kommen vermehrt Fragen auf bei den Eltern. Mit Hilfe von Stammzellenforschung hätte Maybelle gerettet werden können, doch viele Länder dieser Welt verweigern sich dieser Wissenschaft. Religiöse Konzepte sehen sich nicht damit konform gehen. Und so wütet Didier mit seinen kleinen Äuglein – die in seinem vollends beharrten Gesicht wie Knöpfe wirken – und einer hallenden Stimme. Er rastet aus, beschimpft den Glauben und seine Frau Elise gleich mit.
Große Gesten zwar, die in Anbetracht einer theoretisch schnell kitschig werdenden Thematik nervig sein mögen, hier jedoch nur den Zwist zweier Menschen nach außen kehren, die jahrelang glücklich zusammen lebten, doch nach dem Tod entfremden. Was vorher passte, stößt sich ab. Liebe? Hass. Zusammenhalt? Einsamkeit. Kraft? Schwäche. Maybelles Leben endete, verging, aber wie der erloschene Stern am Himmel ist sie noch immer da und verändert Menschen. Elise und Didier kämpfen für sie – nein, jetzt nicht mehr; letztlich bekämpfen sie einander. Und der Stern am Himmel erlischt, und es findet sich kein Ersatz mehr. Der Kampf ist verloren. Nur die Musik bleibt. Tröstlich ist das nicht, sondern herzzerreißend, wie ich es nie wieder erleben möchte. Ich könnte es nicht ertragen.
Schön und gut abgefasst. Trifft das, was ich mir bei dem Film auch dachte.
Danke für das Lob!
Schöner Film, schöne Kritik 🙂