Weiter geht es mit dem zweiten Teil, unseres Berlinale-2014-Überblicks!
Schildbürgerstreiche: so harmlos präsentieren sich die Aktionen der Velvet Terrorists, die das Regie-Trio Pavlov Pekarcik, Ivan Ostrochovsky und Peter Kerekes beim Gespräch über deren Vergangenheit als erklärte und verurteilte Staatsfeinde beobachteten. Aber sind sie das tatsächlich?
Stano hatte einen Plan und das Zeug, ihn umzusetzen. Materiell zumindest. Einen Sack voll Sprengstoff, mit dem er die Profiteure und Bonzen des tschechoslowakischen Systems in die Luft jagen wollte. Das spezielle Feuerwerk unter der VIP-Tribüne am Rande der 1. Mai-Prozessionen würde seine persönliche Art zu feiern. Gefeiert hat Stano. Nicht mit einem Anschlag, sondern vorab mit Alkohol – so viel, dass die Polizei den Typ, der besoffen um die Tribüne torkelte, aufgriff und einen Blick in sein Gepäck warf. 5 Jahre Haft.
Fero hatte sich ein höheres Ziel gesteckt: den VIP schlechthin, Präsident Gustav Husak. Eine Schusswaffe und Sprengstoff hatte er, fehlte nur noch die Unterstützung des CIA. Vielleicht sind am CIA-Telefon öfter Anrufer, die von Revolution und Umsturz schwadronieren oder aber Leute mit dem Wunschberuf „Präsidenten-Attentäter“ stehen im Land von Lincoln und Kennedy einfach nicht so hoch im Kurs. Der tschechoslowakische Geheimdienst wenigstens nahm Fero ernster als der amerikanische und für alle Fälle gleich fest. 14 Jahre Haft.
Vladimir immerhin hat es krachen lassen. 53 von der Kommunistischen Partei hat er insgesamt umgelegt. Ein paar mal haben sie ihn geschnappt, aber seinen Widerstandsgeist konnten sie nicht brechen. Kaum war er ihnen entkommen, hat er weiter gemacht und die nächsten mussten dran glauben. Vladimir hatte kein Mitleid mit den Informationstafeln der Partei, die er demolierte. Und der Staat hatte kein Mitleid mit ihm. Insgesamt über 4 Jahre Haft.
Die Strafen klingen drakonisch, besonders im Falle Vladimirs, aber sie sind es kaum. Weder gemessen an der aktuellen Rechtslage, noch im Hinblick auf die Faktizität der Tatbestände. Sind geplanter Mord, gemeingefährliche Absichten und Gewohnheitskriminalität nur Schabernack, wenn die Verantwortlichen einfach zu desorganisiert, um nicht zu sagen: dumm, sind? Keiner der Filmemacher stellt sich der Frage ernsthaft. Stattdessen erliegen sie zu oft der Verlockung kurioser Komik. Ein unangenehm kalkulierter Ansatz, denn die skurrilen Biografien bergen echten Terror, wenn nicht politischen, dann den der Gefängniszeit und der Verharmlosung totalitärer Willkür.
1,5/5 Sterne
Dem Leben abhanden gekommen sind auch die Protagonisten, um die Warwick Thorntons Kamera schleicht. Oder ist es umgekehrt und die Protagonisten scharren sich um die Kamera, gerade außerhalb des Gesichtsfelds oder in der undurchdringlichen Schwärze einer Nacht am Lagerfeuer? Dort sitzt einer der australischen Schauspieler, denen der Regisseur ebenso gebannt zu lauschen scheint, wie man es selbst tut, und teilt eine der 13 Geschichten. Sie alle befassen sich mit jener ungreifbaren und dennoch allgegenwärtigen Seite der menschlichen Fantasie und Mystifikation, die der atmosphärischen Dokumentation ihren Namen gibt: The Darkside.
Aus dem Schattenreich, wo indigene Mythologie und urbane Legenden ineinanderfließen, kommen die wahren Akteure der cineastischen Anthologie. Eine von ihnen ist die Großmutter, die ihre Enkelin selbst nach dem Tod besucht. Eine andere ist die beinlose Gestalt, die eine Darstellerin während eines Aufenthalts in Nordaustralien eines Nachts wie einen Alp auf ihrer Brust kauernd fand. Gespenster sind in dem in seiner verbalisierten Form genuinen Geisterfilm so unterschiedlich und eigenwillig wie die Menschen, die sie einst waren – oder die Menschen, die sich eingebildet haben, die Geisterwesen zu sehen. Thorntons lange Einstellungen wirken zu Beginn etwas statisch, doch ist es gerade diese ruhige Aufmerksamkeit, die erst das völlige Eintauchen in die mysteriösen Narrationen ermöglicht. Ihre suggestive Kraft ziehen die mal rührenden, mal ulkigen und selbstverständlich oftmals spukhaften Geschichten fast ausschließlich aus den Worten der Erzählenden und den Orten, die der Regisseur dazu zeigt. Zugleich erkundet er die dunklen Kapitel der australischen Geschichte, geprägt von Ausbeutung und Unterdrückung der Ureinwohner. Viele von ihnen waren ausgerechnet in dem Gebäude beigesetzt, das heute das nationale Film- und Tonarchiv beherbergt. The Darkside beschwört nicht nur den wohligen Schauer beim Anhören von Geistergeschichten, sondern dokumentiert auf faszinierende Weise die Transzendenz von Schmerz und Verlust, ob individuell oder kollektiv in moderne Mythen.
4/5 Sterne
Geisterhafte Erscheinungen, substantielle Verunsicherung und die nur zu reale Angstvision maliziöser Fremdkontrolle beschwören auch die Berlinale Classics. Die im Vorjahr ins Leinwandleben gerufene Ausfächerung der Retrospektive widmet sich neu restaurierten und wiederentdeckten Werken der Filmgeschichte. Deren vielleicht brillanteste Visualisierung von Wahnsinn und Grauen eröffnet die Reihe und zugleich ein mentales Nachtreich. Anders als die übrigen Filme, die hier besprochen werden, habe ich die digital restaurierte Fassung von Das Cabinet des Dr. Caligari nicht gesehen. Noch nicht, wie ich hoffe, obwohl ich den verlockenden Premiere-Termin in der Berliner Philharmonie am dritten Festival-Tag nicht schaffen werde.
Begleitet von Live-Musik, die trotz der besten Tontechnik stets organischer ist als aufgenommene, beabsichtigt die Vorführung die Eindrücke während der ersten Kinoperiode des Films so greifbar wie möglich zu machen. Wer zeitlich und lokal nicht streng an den Kernort des Festivals, die Kinos am Potsdamer Platz, gebunden ist, sollte den Schritt in den abgründigen Titelort des Stummfilm-Meisterwerks wagen. Die expressionistische Wahnwelt, die Regisseur Robert Wiene und die Darsteller Conrad Veidt in der Rolle des Somnambulisten und Werner Krauss als Caligari kreieren, ist ein Alptraum in einem Alptraum. Man kann sie als Parabel auf die kommenden historischen Schrecken der Nazizeit interpretieren, sie als doppelbödige Allegorie psychologischer Manipulation sehen oder schlicht als ästhetisch und inszenatorisch überragenden Horrorfilm. Das Städtchen Holstenwall, in das eine blutige Mordserie und ein Wanderjahrmarkt mit einem bizarren menschlichen Exponat das Grauen bringen, ist in seiner phantasmagorischen Exzessivität ein surrealer Ort, dessen trügerische Unwirklichkeit nur dazu dient, den Besucher in falscher Sicherheit zu wiegen und einzulullen. Ein Schicksal, welches mit verstörenden Folgen die unglückseligen Charaktere heimsucht.
5/5 Sterne
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