Willkommen zum letzten Teil unserer Beichtsreihe zur Berlinale 2014, die immerhin mit zwei der besten Filme, die auf dem Festival gezeigt wurden, abschließt.
„Wir wurden zum Leiden geboren.“, sinniert einer der italienischen Fischer, die in Walter Bencinis Arbeitsalltagsbebilderung ihre Netze auswerfen. Das gleiche tut der Regisseur, nur hofft er auf dicken Fang unter dem Publikum des Kulinarischen Kinos. Was in diesem Fall unter dem Etikett Dokumentation läuft, ähnelt verdächtig einer Apotheose. Ihre Protagonisten, die in der Lagune von Orbetello mit weitgehend traditionellen Methoden auf Beutezug gehen, sind für ihn The Knights of the Lagoon. Und er, Bencini, der sie vor dem pittoresken Hintergrund der Toskana in Szene setzt, ist der König der Fischer.
Der zitierte Satz ist eine passende Einstimmung auf den Kameraausflug in sein filmisches Reich. Zum Leiden geboren ist man auch als Kritikerin der Reportagen von Filmemachern, die ihren Protagonisten so nahe gekommen sind, dass jede kritische Distanz zur Thematik fehlt. Solch ein undifferenzierter Romantisierer ist hier Bencini, der seine Titelhelden bei ihrem Tagwerk begleitet und ihre Gesprächen mitanhört. Die Botschaft, die daraus konstruiert wird, ist unmissverständlich: Diese rauen Männer mit ihrem urigen Handwerk und ihrer äußerlichen Genügsamkeit sind für jeden ein Vorbild! Liegt in ihren schlichten Bemerkungen nicht tiefe Weisheit? Bergen ihre gewöhnlichen Scherze nicht profunde Erkenntnis? Waren nicht auch vier Jünger Jesu Fischer? Ähm… Nein! „Es gibt Welten, die wir nie kennen werden, wenn wir sie nicht aufsuchen.“, säuselt das Presseheft. Eine dieser Welten ist die Orbetellos, von der die tendenziöse Reportage kein objektives Bild liefert. Die Ritter der Kutter erscheinen bei genauerem Hinsehen als Teil des Problems, statt als dessen Lösung. Die von Wasserpumpen gespeiste Lagune ist kein naturbelassener Ort mehr. Ihre Fischpopulation wird erhalten durch Farmfisch, dessen Haltung als gegeben hingenommen wird. Die umweltschädlichen Auswirkungen von Aquakulturen, die Qualen der Tiere und die Frage, ob angesichts globaler Überfischung kommerzieller Fang überhaupt zeitgemäß ist, werden ausgeblendet, ebenso patriarchalische Machtstrukturen und dröger Traditionalismus. „Es gibt weniger und weniger Fische, da es immer mehr Räuber gibt.“, sagt einer und ignoriert geflissentlich, dass seine Berufsgenossen und er dazu gehören. Dass die Barsche, Aale und Meerbrassen überfischte Arten sind, von deren Verzehr abgeraten wird, interessiert nicht. Das Publikum wird schon niemandem einen Vorwurf machen, wenn es die lokalen Spezialitäten sieht. Die jetzt verspeisen in einem der putzigen Restaurants mit Wasserblick, die aussehen wie aus einer Tourismus- oder ein Käptn-Iglu-Reklame… Bleibt nur zu hoffen, dass sie ihre Wirkung verfehlt.
1/5 Sterne
„Revolution!“ Der Ruf geht durch die Menschenmengen, hallt durch die Straßen Kairos und bündelt sich auf dem Tahrir Platz. Der seit den 2011 hochgekochten Protesten nunmehr historische Ort ist das glühende Herz des ägyptischen Aufstands gegen Diktator Hosni Mubarak und den fortgesetzten Kampf gegen sein Militärregime, das nach Mubaraks Rücktritt seine Macht behielt und brutal gegen die Bevölkerung einsetzte. Der Tahrir-Platz ist auch das pulsierende Zentrum von Jehane Noujaims packender, Oscar-nominierter Reportage The Square.
Die amerikanisch-ägyptische Filmemacherin orientiert ihr gleichermaßen universelles und persönliches Stück Zeitgeschichte an drei Freunden, die jeden Tag im Kampf gegen das Terror-Regime ihr Leben riskieren. Einer von ihnen ist der Schauspieler Khalid Abdalla, bekannt aus „Der Drachenläufer“, der analytisch und energisch die politische Manipulation und Korruption im Zuge der Wahl des neuen Präsidenten Mohamed Morsi artikuliert. An seiner Seite protestiert der junge Ahmed Hassan, der seit seiner Kindheit von sozialer Gerechtigkeit und Freiheit träumt. Aida wiederum beteiligt sich unerschrocken an der Organisation der mit unmenschlichen Mitteln von Polizei und Militär niedergeschlagenen Dauerproteste sowie an deren Dokumentation. Letzte ist ein essentieller Teil des Widerstandes, der zu Recht nach globaler Medienbeachtung verlangt. „Wir sollten so viel davon filmen, wie wir können.“, heißt es zu Beginn des Wirbelsturms oft blutiger, schmerzlicher und dennoch hoffnungsgetragener Bilder: Soldaten, die in die Menge schießen, Menschen, die Protestsongs anstimmen, die Tage und Nächte im Freien kampieren, begleitet von der Angst, auf dem Nachhauseweg von der Geheimpolizei abgefangen und gefoltert oder ermordet zu werden. Noujaims Medien sind Digital- und Handkamera, ihr Material verstärken Handyclips und Archivaufnahmen. Vereint entfalten die visuellen Zeugnisse der Verzweiflung, Zerrissenheit und vor allem des unbeugsamen Mutes der Menschen auf dem Tahrir-Platz eine filmische Kraft, deren größte Gegner Desinteresse und Ignoranz der Weltöffentlichkeit sind. Schleichende Erosion von innen ist die Hauptfurcht der Revolutionäre. Wie Khalid warnt: „Massenaktionen können die Zukunft eines Landes verändern. Wenn das Volk aufhört, daran zu glauben, sind wir als Revolution in Schwierigkeiten.“
5/5 Sterne
Das Fernsehspiel, das Broadcast 2005 zum einflussreichsten TV Programm der britischen Rundfunkgeschichte wählte, wäre beinahe nie über die Bildschirme geflimmert. Cathy Come Home war die neueste Regiearbeit von diesem kaum 30-jährigen Regisseur, der mit dem gleichen Drehbuchautor Jeremy Standford den empörten Führungskräften des BBC und dem aufgebrachten Publikum im Vorjahr den „Up the Junction“ vorgesetzt hatte. Nun wollte der Unruhestifter namens Ken Loach nach seinem Skandalfilm um Arbeiterarmut und illegale Abtreibung in der Reihe „The Wednesday Play“ ein Thema angehen, das im Großbritannien der 60er kaum weniger brisant war.
Um Zensur im Vorfeld so weit wie möglich zu umgehen, vermerkte Produzent Tony Garnett das Filmprojekt als „Liebesgeschichte“. Eine solche ist die 1966 ausgestrahlte Doku-Fiction, die im Rahmen der Berlinale Hommage und der Verleihung des Goldenen Ehrenbären an Ken Loach eine seltene Aufführung auf der Kinoleinwand erlebt, tatsächlich. Allerdings eine Liebesgeschichte, wie sie das Leben schreibt: deprimierend, bitter und so instabil wie die soziale Grundlage, auf der die junge Titelfigur (gespielt von der damals 23-jährigen, im Alter von 48 Jahren unter unklaren Umständen verstorbenen Carol White) und ihr Freund Reg ihr Familienleben aufbauen. Das armselige Glück der zwei währt kurz. Zuerst kommen Kinder, dann Regs Arbeitslosigkeit und schließlich der Gerichtsvollzieher. Statt im modernisierten Londoner Heim sitzt das obdachlose Paar bei Regs Mutter in der Provinz. Die nächste Station auf dem Weg ins gesellschaftliche Abseits ist eine heruntergekommene Sozialwohnung. An deren Tür hämmert ebenfalls bald der Vollstrecker. Das ständige Getriebensein verwandelt Cathy und Reg in eine schäbig-realistische Variation der Liebenden auf der Flucht. Ihr hartnäckiger Verfolger ist nicht die Polizei, sondern Armut, die ihre Kräfte und Zuneigung füreinander aufzehrt. Nach einem Aufenthalt auf einen Rastplatz bleibt nur noch die Notunterkunft und ungezieferverseuchte Absteigen. Das Sozialsystem versagt nicht einfach, nein, es macht die Lage der Hilfebedürftigen noch angespannter. Der schonungslose Realismus der Inszenierung, die kein Einzelschicksal, sondern eine weitverbreitete Notlage dramatisierte, ist ungebrochen bewegend und frei von der fragwürdigen Versöhnlichkeit der späteren Werke des milder gewordenen Loach.
4,5/5 Sterne
Hier geht es zu den bisherigen Berichten:
Filmfutter auf der Berlinale – Teil 1
Filmfutter auf der Berlinale – Teil 2
Filmfutter auf der Berlinale – Teil 3
Filmfutter auf der Berlinale – Teil 4
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