Neben der Grippe zieht auch die Berlinale im kalten Hauptstadt-Februar wieder durch Berlin und versammelt internationale Filme sowie Publikum in den Kinosälen. Vom 9.-19. Februar steppt nicht nur der Bär sondern auch Regie-Veteran Paul Verhoeven (RoboCop) als Kopf der diesjährigen Jury samt Gefolge (darunter auch Maggie Gyllenhaal und Diego Luna) von Film zu Film. Zahlreiche Stars und noch viel mehr nicht berühmte Leute tummeln sich am Potsdamer Platz und ausgeweitetem Radius und mittendrin: Ich. Gewappnet mit Festival-Badge, Notizblock und Before-Sunrise-DVD (man könnte ja Ethan Hawke über den Weg laufen) werde ich die nächsten Tage mehr Zeit vor der Leinwand verbringen als im Bett und mehr schreiben als schlafen. Mit diesen Worten herzlich Willkommen zu meinem Festival-Tagebuch zur 67. Berlinale.
Teil 1
Zum 75. Geburtstag von Rainer Werner Fassbinder will die deutsche Filmlandschaft Originalität: Ein Remake von Fassbinders Die bitteren Tränen der Petra von Kant. Wenige Tage vor Drehbeginn ist Regisseurin Vera (Judith Engel) immer noch dabei, die komplexe Rolle der Petra von Kant zu besetzten. Der Sender und seine ausführende Hand Manfred (Stephan Grossmann) sitzen ihr bereits im Nacken, die Teamkollegen zweifeln bereits und der Proben-Anspielpartner springt plötzlich ab, als gerade die nächste Darstellerin zum Casting ankommt. So chaotisch, wie die Situation ist, stürzt sich auch die dokumentarische Kamera in das die Tour de Force, die Film über Film macht. Von plakativen Rollenzuweisungen, nach denen Manfred den Kommerzzwang der Industrie und Vera den Freigeist der Kunst repräsentieren, arbeitet sich Regisseur und Drehbuchautor Nicolas Wackerbarth in seinem fein konstruierten Meta-Werk durch die Facetten des so komplexen und disparaten Vorganges des Filmemachens und schafft letztendlich auch, das Werk Fassbinders durch sein ganz eigenes Kunststück zu beschreiben.
Für die nacheinander eintreffenden Schauspielerinnen springt Gerwin (Andreas Lust) als Anspielpartner in der Rolle des Karl ein und findet sich mit jeder Minute selbstbewusster in seine Rolle ein. Im Zuge der Proben erkundet Casting mit jeder Anmerkung der Regisseurin, jedem neuen Ansatz der Schauspielerinnen und jedem Eingriff des Senders die Philosophien der verschiedenen Parteien und Personen, spielt sie gegeneinander aus und entwickelt sich damit letztendlich zu einem unglaublich rasanten Diskurs über die Kunstform Film. Am Rande wird das System der deutschen Filmindustrie und ihren kreativen Zwangsjacken beleuchtet, in garstigen Fassbinder-Dialogen durch Figuren-Konstellationen gesaust und am Ende gar die Grenze zwischen Realität und Fiktion bis zur Unkenntlichkeit verwischt. In der besten Szene des Films spielen (oder eben nicht) sich zwei Darsteller so in Rage, dass sie selbst nicht mehr zu wissen scheinen, was Realität und was Schauspiel ist – es ist auf jeden Fall zum Niederknien.
3,5/5 Sterne
Die meisten Filme auf dieser Welt kann man dafür kritisieren, zu wenig Isabelle Huppert (Elle) zu haben. Denn wo die einzigartige und wahrscheinlich beste Schauspielerin der Welt nicht mitwirkt, fehlt sie auch. Und obwohl Laura Schroeders Barrage (franz. Sperre) die Französin sowohl im Cast als auch zu wenig von ihr hat, ist sie in fast jeder Szene zu spüren. Würde man es nicht besser wissen, könnte man denken, Madame Huppert spiele hier an der Seite von sich selbst zu Zeiten von Madame Bovary und gewissermaßen ist dem auch so. Protagonistin Catherine wird durch ihre Tochter Lolita Chammah (Leb wohl, meine Königin!) verkörpert, die ihrer Mutter so ähnlich sieht, dass sie schon in Totalen kaum zu unterscheiden sind und sich Dialoge zwischen den beiden wie visualisierte Selbstgespräche anfühlen. Das spielt dem Film nur in die Karten, der die beiden Frauen auf eine steinige Vergangenheitserkundung sendet, als Catherine nach Jahren plötzlich bei ihrer Mutter Elisabeth auftaucht, die Catherines Kind Alba (Themis Pauwels) jahrelang allein großziehen musste. Sie wolle nun Zeit mit ihrer Tochter verbringen.
Der Annäherungsversuch stellt sich als noch schwieriger als vermutet heraus. Bei der ersten Mutter-Tochter-Wiederbegegnung scheint Alba fast schon ängstlich vor Catherine zurückzuweichen. Die strenge Elisabeth hat ihre Enkelin stark unter Kontrolle und fordert von ihr für das Tennis-Training militante Disziplin – eiserne Richtlinien, die Catherine aus ihrer Jugend nur allzu gut kennt. Unter Widerwillen entbehrt sie die Kleine doch für ein paar Stunden Zeit mit ihrer wiedergekehrten Mutter. In Barrages 4:3-Bildern lässt Laura Schroeder ihre Figuren oft allein und verloren wirken, separiert sie von ihren Mitmenschen und lässt stille Blickwechsel von untergrabenen Problemen erzählen. Jede Stille in ihrem Film markiert und fasst aber auch immer einen kleinen Schritt vorwärts in der rissigen Mutter-Kind-Beziehung an, bis diese Stille von Musik gefüllt wird. Gerade in dieser Phase des allmählichen Heilens schafft Schroeder jedoch nicht, die Kraft zu entfalten, nach der die Szenen verlangen. Wo ihre bedächtige Inszenierung zu Beginn noch eine emotionale Unklarheit und Verschlossenheit unterstreicht, dämmt sie die aufkommenden Emotionen zunehmend ein. So bleibt auch die Beziehung zwischen Catherine und ihrer Mutter bis auf eine Szene, in der Elisabeth durch eine Art Tanz der Vergangenheit wandert, recht blass.
2,5/5 Sterne
Sehr oft erzählen Filme von Leuten aus einer sozialen und ethnischen Unterschicht, einer schlechten Gegend, die von Gangs, Drogen und Gewalt unsicher gemacht wird, entweder Geschichten einer hoffnungslosen Abwärtsspirale, perspektivloser Tristesse, Tod und Knast oder in glorifizierter Form vom Gangster-Leben, es-raus-schaffen durch die harten Methoden, die das harte Leben bietet. Mit Dayveon vereint Amman Abbasi diese Komponenten zu einem ambivalenten Bild. Der titelgebende Dayveon (Devin Blackmon) ist voller Frust und Wut, nachdem sein großer Bruder erschossen wurde. Er lebt nicht mehr bei seinen Eltern, sondern seiner Schwester Kim (Dontrell Bright) und dessen Freund, die versuchen, im dauerbrodelnden Wespennest anständig über die Runden zu kommen. Doch Dayveon beginnt, auf die Falsche Bahn zu kommen, besitzt eine Waffe und wurde gerade mit brutalem Prügel-Ritual als ein Mitglied der Bloods-Gang aufgenommen.
Ein fehlgeschlagener Raub, an dem Dayveon beteiligt ist, würde in konventionellen Filmen dieser Art wahrscheinlich den dritten Akt in ein Extrem lenken, Abbasi liefert statt anschließender Konsequenz und Überblendung zu den Credits jedoch erfrischende und ehrliche Szenen, in denen ein paar der Gang-Mitglieder über ihre Probleme reden, über die Stromrechnung, das Essen für die Kinder. Wo einer Figur ein Hoffnungsschimmer spendiert wird, bleibt dieser bei anderen aus. Trauer, Frust, Aggressionen und Tragik liegen direkt neben Hoffnung und Schönheit, die Kameramann Dustin Lane in einer sonnendurchfluteten 4:3-Optik auf die Leinwand bannt und dabei nicht selten an Andrea Arnolds American Honey erinnert.
3,5/5 Sterne
Adieu, der nächste Tag wird lang, vielleicht noch länger, aber sicherlich mit viel weniger Schlaf durchzuhalten sein. Aber wer brauch schon Schlaf, wenn man auch im Kino träumen kann?
[…] weitergehen. Beim Guilde-Screening von Free Fire waren Hardy, der auf Filmfutter übrigens auch ein Tagebuch führt, und ich nicht willkommen, da wir für Online schreiben. Schade. Die Redaktion von Das Film […]