Die Läden sind geschlossen, die Straßen leer – es ist Sonntag und doch tummeln sich die Leute am Potsdamer Platz in Berlin, um Filme zu schauen. Mit bereits eingeschränkten Kraftreserven und ganz viel Kaffee geht es am vierten Tag zum ersten Mal in die Sektion Retrospektive, um sich dem vollen Genuss der 35mm-Projektion hinzugeben und anschließend den Wettbewerb erkunden.
Teil 4
Mit voller Wucht stößt uns Kathryn Bigelow (Zero Dark Thirty) in eine POV-Sicht, durch die wir in den ersten Minuten von Strange Days einen adrenalingeladenen Raubzug durchleben, bis wir auf der Flucht vor der Polizei von einem Hausdach stürzen und sich Ralph Fiennes' (Grand Budapest Hotel) Lenny die Strange-Days-Version einer Virtual-Reality-Brille vom Kopf reißt. Mit dieser Bewegung koppelt er sich jedoch keinesfalls von dieser dreckigen Welt ab. "It’s not "TV only better", it’s life", sagt er später über die Ciberdiscs, mit Hilfe derer diese intensiven Erfahrungen durchlebt werden können und spielt damit nicht einfach auf das extrem realistische Gefühl einer Simulation an. Die illegal verbreiteten Discs beinhalten reale Aufnahmen. Um diese zu beschaffen, stattet Lenny Leute mit dem Aufnahme-Equipment aus und macht ihre Erfahrungen zum Geschäft. Mit dieser fiktionalen Technik beschreibt Bigelow aus dem Jahre 1995 vorausgreifend nicht nur das hochaktuelle Virtual-Reality-Thema. Was unter den Konsumenten der illegalen Wahre beliebt ist, ist von POV-Pornos über Livestreams bis hin zu Snuff-Videos (auch wenn nicht bewiesen) Teil unserer heutigen Realität. Und damit ihre dunklen Seiten, auf die sich ein dystopischer Science-Fiction-Film wie Strange Days natürlich konzentriert. Sie bilden den Kern einer auch äußerlich verrohten Welt. "I never had no dreams, 'cause my life is a nightmare."
Um dem Frust über diesen von Dreck, Gewalt und Rassismus durchzogenen Polizeistaat von Welt zu entkommen, greifen so einige zu den Ciberdiscs wie zu Drogen. Auch Lenny flieht, in seinem Falle in sonnendurchflutete Erinnerungen, wo er mit seiner mittlerweile Ex-Freundin Faith (Juliette Lewis) auf Rollerblades am Strand entlangfährt. Die Thematisierung des technologisch verschuldeten Realitätsverlusts wirkt im Gegensatz zu ihrer Form zugegebenermaßen heute schon wieder etwas verbraucht und Lennys Beziehung zu Faith als emotionaler Kern der Geschichte mit dieser Szene als Fundament zu instabil. Spannendender ist da, in was für einer Skrupellosigkeit die Menschen drumherum ihre Wut katalysieren. Der Plot begibt sich auf die Suche nach gleich zwei Killern, an dessen Spur aus aufgezeichneten Verbrechen sich Lenny und seine Freundin Lornette (Angela Bassett) entlanghangeln. Ein brutaler Vergewaltiger zentralisiert das Unheil der Ciberdiscs, der Mord an einem bedeutenden schwarzen Musiker, der sich gegen den Rassismus und die Polizeigewalt einsetzt, die politische Situation. Letzterem Kommentar spendiert das Drehbuch im etwas zu action- und twistüberladenen Finale einen pathetischen Hoffnungsschimmer zwischen Konfetti und Gewalt der Silvesternacht zur Jahrtausendwende. Im Kontext der heutigen Lage und Dokumentationen wie Der 13. und I Am Not Your Negro wirkt das traurigerweise ernüchternd.
3,5/5 Sterne
Zu Vivaldis Trio Sonata stampft er wütend durch den Schnee, der aufgebrachte Bürger Georg. Erzürnt darüber, von seinem langjährigen Job als Musikkritiker einer Wiener Zeitung gekündigt worden zu sein. Sein Chef (Jörg Hartmann) sortiert die ältere Garde aus und ersetzt Georg durch eine jüngere Journalistin (Nora von Waldstätten), die Georg nach deutlich weniger von der Materie versteht, wie er im Gespräch nach einem Konzert, dass er zum ersten Mal wieder außerberuflich besucht, entsetzt feststellen muss. Es ist die Geschichte einer in zweierlei Hinsicht bedauernswerten Person, die Josef Hader (Vor der Morgenröte) hier nicht nur verkörpert, sondern auch selbst zu Papier brachte und im Regiestuhl dirigierte. Sitzt Georg wehmütig zwischen Zukunftsangst und Selbstmitleid in der hintersten Reihe eines Konzertsaals, tut er einem schon leid. Zerkratzt er im kleinbürgerlichen Größenwahn heimlich das teure Auto seines Chefs, ist er statt dem System trotzendem Rebell, den er damit heraufbeschwören möchte, höchstens eine wilde Maus.
Etwas später wird mit Schulkamerad Erich (Georg Friedrich) eine Gruppierung der Verstoßenen gebildet, anschließend die Wilde Maus mit Drama-Spiegelung im Eigenheim und globalen Problemen in den Nachrichten kontrastiert. Josef Hader lässt den Zuschauer schon längst lachen, bis sich Georg halbnackt im Regen stehend, blamieren und seine Lächerlichkeit eingestehen muss. Durch Haders charakterbezogene Regie, die Ballast abwirft und Umstände prägnant formuliert, wird seine Hauptfigur trotz komödiantischer Konnotation nicht zur Karikatur.
3,5/Sterne
"Warum hast du ihn nie besucht?", fragt Luis (Tristan Göbel) seinen Vater Michael (Georg Friedrich) über dessen Vater aus. Wie so oft in Thomas Arslans (Gold) Helle Nächte wird eine Antwort von Schweigen übertönt. Es ist ein Schweigen, das von generationsübergreifender Entfremdung erzählt, von einer Kommunikation, die nicht nur verbal dysfunktional ist. Als Michaels Vater stirbt, begibt er sich zusammen mit seinem Sohn in die vernebelten, ungewissen Berglandschaften Norwegens und damit auf die Suche nach einem verlorenen Vater-Sohn-Verhältnis im doppelten Sinne. In langen Einstellungen folgt Arslan seinen Charakteren auf einer nachdenklichen Wanderung mit zarten Annäherungsversuchen und verirrten Blicken. Kein kathartisches Erlebnis steht am Ende dieses zurückgenommenen Road-Movies, es bleibt eine ungewisse Reise durch dichten Nebel.
Formal ist Arslans Film ein fast schon hypnotischer Aufarbeitungsprozess, inhaltlich fällt er aber schnell flach. Obwohl Helle Nächte immer wieder potente Situationen entwirft, durch die Eltern-Kind-Beziehungen universell erkundet werden könnten, wendet sich das Drehbuch oft von ihnen ab und breitet die eigene individuelle Beziehung zwischen Luis und Michael in wortkargen, atmosphärischen Bildern aus. Georg Friedrich kann seiner Figur noch eine gewisse Zerrissenheit abgewinnen, Tristan Göbel (Tschick) hingegen kann mit seiner starren Miene nicht das aufgewühlte Innenleben seines Charakters evozieren.
2,5/5 Sterne
Hier geht es zu den bisherigen Berichten:
Filmfutter auf der Berlinale 2017 – Teil 1