Birdman, USA 2014 • 119 Min • Regie: Alejandro González Iñárritu • Mit: Michael Keaton, Emma Stone, Edward Norton, Zach Galifianakis, Naomi Watts, Lindsay Duncan, Andrea Riseborough, Amy Ryan • FSK: ab 12 Jahren • Kinostart: 29.01.2015 • Deutsche Website
Wow – Was für eine künstlerische und technische Symbiose von Theater und Kino! „Birdman (oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“ macht hier künstlerisch und technisch beinah beiläufig aus dieser Fusion eine Win-Win-Situation. Das gleichermaßen prächtig aufspielende Schauspielerensemble und die bitterbösen Satirespitzen auf Hollywood’sche Oberflächlichkeit, Verlogenheit der voreingenommenen Kritiker und die sensiblen Befindlichkeiten von Broadwaystars sind ein Fest. Vorne an von Ex-Batman-Ikone Michael Keaton als „Birdman“ angeführt, erweist sich dieser Besetzungskniff als wahre Goldgrube für ironische Doppelbödigkeit, wenn es darum geht, auf dem Mikrolevel beispielhaft eine fast senile, brachliegende Karriere zu reanimieren, oder auf dem Makrolevel das gesamte Business zu verhöhnen. Mehr noch: Die Selbstreflexivität wird durch Michael Keaton auf die exponentielle Spitze getrieben. Der Regisseur Alejandro González Iñárritu („Babel“) holt das Maximum aus seiner Vision, der fingerfertigen, gleitenden Kamera und seinen Darstellern heraus: Grandios und nicht zu Unrecht im Oscar-Rennen 2015 dabei. Seht her!
Riggan Thomson ist „Birdman“; ein Idol, eine Ikone, eine ausgelutschte, abgehaflterte Karriere. Vor langer Zeit war Riggan ganz groß im Geschäft, doch seine Zeit ist vorbei. Überambitioniert, mit fast blinden Aktionismus und schierer Verzweiflung will der Schauspieler ein Broadway-Stück aufführen, damit er allen und speziell sich als „Birdman“ beweisen kann, dass er es immer noch kann. Der drückende Zeitplan, die Vorbereitungen für die Premiere und der Ausfall eines wichtigen Darstellers sind nervöses Dynamit. Ersatz ist zum Glück in Mike Shiner (Edward Norton) rasch besorgt, der sich jedoch als streitsüchtiger Schürzenjäger entpuppt. Aufgrund seiner Genialität als Schauspieler wird er kurzfristig in den Cast integriert. Riggans Tochter Sam (Emma Stone), die gerade erst aus einer Rehab-Klinik kommt, wird prompt von ihm angeflirtet. Als wäre dies nicht genug, offenbart Freundin und Kollegin Laura (Andrea Riseborough) ihrem Lover Riggan, schwanger zu sein. Riggans Ex-Frau Sylvia (Amy Ryan) möchte auch ihr Ei zwischendurch mit hereinschlagen und Manager Jake (Zach Galifianakis) versucht das Konvolut aus Schauspieler-Nervenbündeln im Broadwaytheater-Vorpremieren-Alltag und vor allem das Geld zusammenzuhalten.
Batman, äh natürlich „Birdman“ Michael Keaton ist die Speerspitze dieses spielfreudigen Kreuzzuges durch die unwirtlichen Charakterwüsten von Hollywood-Sternchen, Möchtegern-Künstlern und scheinbar sonstigen Taugenichtsen, die sich alle gegenseitig das Leben schwer machen. Als Vorwand dient der künstlerische Anspruch, um die notgeile Geltungsbedürftigkeit der einen und irgendwie unverhohlene Profitgeilheit der anderen zu kaschieren. Keatons Rolle verfügt über übersinnliche Kräfte, kann er mittels Gedankenkraft beispielsweise einen Scheinwerfer auf einen untalentierten Schauspielerkollegen fallen lassen, um diesen durch den exzentrischen Draufgänger Edward Norton zu ersetzen (der obendrein ein dicker Name am Broadway ist – Ticketverkauf!). Abseits davon schwebt er als Meditationsform in seiner Umkleide herum und lauscht der brummenden schizophrenen Badass-Stimme von „Birdman“ in seinem Kopf. Hier hören er und der Zuschauer den Off-Kommentar eines übergroßen Egos bei der Reflektion des Geschehens zu. „Birdman“ ist für Riggan Thomson hilfreicher, motivationaler Anker, aber auch leidvoller Ballast zugleich. Ignoranz und Beharrlichkeit können Tugenden sein, um ein Ziel zu erreichen. Mit welcher Erkenntnisresistenz man nun zu Tate schreitet, ist jedoch essentiell. Wie bereits in anderen Werken („Biutiful“), lässt Alejandro González Iñárritu das Fantastische mit der realen Welt im Einklang verschmelzen. Neben Keatons Mut zur authentischen und natürlichen Normalo-„Hässlichkeit“ (Perücke über das ohnehin dünne Haar), überzeugt sein völlig selbstsicheres, selbstironisches Auftreten. Ein durch und durch ambivalenter Charakter, der eine Beachtung seitens der Oscar-Wähler garantieren sollte. Als Punkt auf dem „i“ erweist sich Riggans Flugfähigkeit als freche Metapher für den Höhenflug blasierter, aufgeblasener Promis.
So viel der Vorschusslorbeeren für Michael Keaton, begeistert der restliche Cast keineswegs weniger. Sogar die Nebenrollen sind hitverdächtig. Naomi Watts tapst als alternde, auf den Erfolg wartende Broadway-Sirene Lesley durch die Theaterschluchten. Während Andrea Riseborough als Laura ihr verschrobenes Techtelmechtel mit Riggan bejammert, grämt sich Lesley wegen ihrer stagnierenden Karriere. Beide trösten sich mit abgedroschenen Floskeln trauernder Diven des Showbiz à la „Herzchen, du bist klasse, denk‘ nicht an die anderen da draußen“, was schließlich in einer der zahlreichen bösartigen satirischen Gipfel kulminiert, wenn sie sich am Ende belächeln und einsehen, wie fade, hohl, verlogen und hinterfotzig dieses Gerede an sich ist. Emma Stone brilliert in der Rolle von Riggans Assistentin und Tochter Sam mit emotionaler Labilität (Drogensucht, schwieriger Künstler-Daddy) und teilt sich mit Edward Norton einige sehr verruchte Augenblicke. Der dandyhafte Exzentriker Mike (Edward Norton) rauscht phänomenal mit seiner nervigen Künstleraffektiertheit und dem Gespür, ständig zum falschen Zeitpunkt Frauen anzubaggern (Ex-Freundin Lesley, Riggans Tochter Sam), durch die Theaterproduktion. Um nicht noch mehr vorwegzunehmen, soll dies zu den schauspielerischen Paradeleistungen genug sein. Iñárritu gelingt es, von Manager Jake bis hin zur Kritikerkönigin Tabitha (Lindsay Duncan) oder gar Riggan selbst quasi als Archetypen für seinen persiflierenden, kritikfreudigen Spießrutenlauf durch das Showgeschäft anzulegen, sodass jede Seite von dem Manager-„Freund“ bis hin zur Missgunst der Kritikergilde oder Schauspieler, die den letzten verzweifelten Griff nach dem verbleibenden Strohhalm ihrer Karriere wagen, den Spiegel vorgehalten bekommen. Dies gelingt dem Schreiberling (nicht nur Iñárritu) und zugleich Regisseur unaufdringlich und teilweise auch subtil, dass Manches einem erst hinterher so richtig einleuchtet, mit Nachbrenneffekt.
Das Setting bleibt zum größten Teil indoor in einem Broadwaytheater. So bekommt man dann auch ganz nonchalant die verwinkelten labyrinthenhaften Ecken eines solchen Theaters vorgeführt. Die ganze Arbeit an so einem Stück wird dadurch greifbar gemacht. Das ganz große Lob heimst die schwebend, gleitende, weitestgehend schnittfreie Kameraführung ein. Hitchcocks „Cocktail für eine Leiche“ kam bereits (fast) ohne Schnitte aus und eingesetzt als Stilmittel in moderneren Filmen sorgte zum Beispiel die lange Kamerafahrt zu Beginn in „Gravity“ für eine unglaubliche Tiefe und Schwerelosigkeit, oder die Gefängnishof-Kampf-Szene in „The Raid 2“ gewann an epischer Dynamik. Alejandro González Iñárritu lässt seine Kamera bei Zeiten fast unentschlossen hinter irgendeinem der Figuren seines Films her stiefeln, als sei der Zuschauer ein unbeteiligter, unsichtbarer Dritter im Raum. Meist befindet man sich im Verfolgermodus und bleibt dann auf dem Weg wieder bei dem nächsten Aufeinandertreffen der Figuren im Theater hängen. Untermalt wird dies von Marsch-artigen Drumsets, die niemals lediglich als Tusch herhalten, sondern akzentuiert die wabernde, emsige, hektische Interaktion in dem Theater wiederhallen lassen.
Im Kern geht es neben Satire auch um die Phase im Leben eines Menschen, wenn er aus der Vogelperspektive (!) auf den status quo hinabblickt und erschreckt feststellt, dass er von den einst edlen Ideen weit weg ist und mehr Schäume als Träume auf der Haben-Seite zu verbuchen sind. Oder noch viel schlimmer: Wenn man etwas erreicht und leider leichtfertig verspielt hat. Fehlende Anerkennung, verlorener Stolz, zu viel Stolz, ruinierte Beziehungen, egoistische Ausschweifungen, Geringschätzigkeit für echte Lebensinhalte und falsche Götzen prasseln allesamt als Shitstorm auf die Hauptfigur nieder, die den Kopf mit allen Mitteln einfach nur über Wasser halten möchte/muss. Dieser Film jongliert dieses Gesamtpaket beeindruckend virtuos, ohne schwer zugänglich zu sein. Die ineinander schmelzenden Amouren von Theater und Film waren noch nie so geschmeidig und ungekünstelt auf derlei vielen Ebenen. Auf ebenso vielen Ebenen funktionieren die Andeutungen in das Fantastische im Wechselspiel zur eigenen Realität des Films und des dargebotenen Settings. Ferner watet diese Charakterstudie der Film- und Kunstindustrie mit freimütiger, bissiger Krittelei auf, die dermaßen ohne Umschweife austeilt, dass Oscarwählern „Birdman“ zu böse sein könnte und eine Auszeichnung verwehrt bleibt. Als besonderen Schlussakkord lässt Alejandro González Iñárritu auch kein gutes Blatt an dem Beauty-Wahn und plastischer Chirurgie und gibt dem Zuschauer eine letzte Gelegenheit einen gerechtfertigten Höhenrausch von "Birdman" Riggan selbst zu interpretieren.