Chernobyl Diaries, USA 2012 • 90 Min • Mit: Olivia Taylor Dudley, Devin Kelley, Jesse McAcartney, Ingrid Bolsø Berdal, Nathan Phillips • Regie: Bradley Parker • FSK: Ab 16 Jahren • Kinostart: 21.06.2012 • US-Website
Handlung
Vier junge amerikanische Touristen auf der Reise durch Osteuropa und ein europäisches Pärchen heuern den dubiosen Reiseveranstalter Juri (Dimitri Diatchenko) an, der die Gruppe nach Prypjat bringen soll, eine Geisterstadt in der Nähe des havarierten Atomkraftwerks Tschernobyl. Einst lebten dort die Arbeiter des Kraftwerks und deren Familien. Über Nacht wurden im April 1986 alle evakuiert. Doch die Miliz, die die Zufahrt zur Stadt bewacht, verweigert der Gruppe den Zugang. Zum Glück kennt Juri auch andere Zufahrtswege nach Prypjat. Dort angekommen sind die Touristen zunächst begeistert von der trostlosen Schönheit der verlassenen Stadt. Da nimmt man auch gerne einen großen Braunbären in Kauf, der durch die Flure eines Wohnhauses rast. Als jedoch die Reisegruppe ihre Neugier ausreichend befriedigt hat und die Gegend verlassen will, mag Juris altes Militärfahrzeug nicht anspringen. Der Kontrollpunkt ist gute 30 km entfernt und auf Funkrufe reagiert ebenfalls niemand. Wohl oder übel muss die Gruppe die Nacht in Prypjat ausharren. Da merken sie, dass sie nicht allein sind…
Kritik
Sagen Euch die Namen Eduardo Sánchez und Daniel Myrick etwas? Wenn ja, dann seid Ihr wohl eingefleischte Horrorfans. Wenn nicht, dann sollte es einem auch kaum peinlich sein. Das Regisseuren-Duo landete 1999 mit Blair Witch Project den wohl größten Independent-Horrorhit de Filmgeschichte. Produziert für weniger als $100,000, spielte die Sensation weltweit fast $250 Mio ein. Noch viel wichtiger ist der Einfluss, den dieser Film auf das Horrorgenre hatte. Zwar war es nicht der erste Film, der sich der „Found Footage“ Methode der Filmpräsentation bediente, doch er popularisierte sie wie kein anderer. Ferner gilt Blair Witch Project (gemeinsam mit Carpenters Halloween) als das Musterbeispiel für einen erfolgreichen Low Budget Horrorfilm. Außerdem war Blair Witch Project der erste Film, der das Internet als Marketingmedium im großen Stil benutzt hat, um den Hype anzukurbeln. Man mag von dem Film denken, was man will (und ich bin persönlich keineswegs ein Fan), doch man kann seinen großen Einfluss und den überragenden Erfolg nicht leugnen. Ohne Blair Witch Project gäbe es wohl keinen Paranormal Activity und ohne Paranormal Actvity hätte Chernobyl Diaries vielleicht nie das Licht der Welt erblickt. Letzteres wäre ein durchaus wünschenswerter Ausgang.
Und doch sind die Namen der Regisseure von einem der einflussreichsten Horrorfilme aller Zeiten in Vergessenheit geraten. Das liegt letztlich daran, dass die einst gehypeten Revolutionäre der Horrorfilmindustrie danach nie etwas Gescheites auf die Beine gebracht haben. Nach einer vieljährigen Pause für beide Filmemacher kehrten sie mit Solo-Karrieren zurück und produzierten Filme wie Vergeltung (OT: Altered), Believers und Solstice. Alle diese Filme erschienen direkt auf DVD und kümmerten kaum jemanden. Bis heute reden die beiden noch hoffnungsvoll von einem dritten Teil (der zweite wurde von Joe Berlinger inszeniert), welcher sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht manifestieren wird. Dieses Beispiel zeigt, dass ein großer Durchbruch nicht ausreicht, um für längere Zeit im Gedächtnis der Filmfans zu bleiben. Hätte Carpenter nach Halloween nicht Das Ding aus einer anderen Welt und Die Klapperschlange gedreht und hätte Tarantino nach Reservoir Dogs nur Müll erschaffen, wären diese Namen mit Sicherheit weniger ein Begriff. Akut läuft der Filmemacher Oren Peli Gefahr, dasselbe Schicksal wie Sánchez und Myrick zu erfahren. Pelis große Stunde kam 2009, als sein $7000 teurer Gruselschocker Paranormal Activity den phänomenalen Erfolg von Blair Witch replizieren konnte. Mit sehr simplen Mitteln erzeugte Peli eine Atmosphäre, die viele höher budgetierte Horrorfilme heutzutage nicht erreichen können. Paranormal Activity ebnete den Weg für eine neue Welle von „Found Footage“ Horrorfilmen, von Der letzte Exorzismus OT: The Last Exorcism) bis hin zu Devil Inside. Doch Peli selbst konnte bislang keinen würdigen Nachfolger abliefern. Seine nächste Regiearbeit Area 51 wurde bereits im Oktober 2009 abgedreht und wartet seitdem auf eine Veröffentlichung. Es bedarf keines Genies, um zu begreifen, dass hier etwas nicht stimmt. Die von Peli mit-erschaffene Mystery Serie The River kam nur mäßig an und wurde nach acht Folgen von ABC abgesetzt. Bei Chernobyl Diaries fungiert Peli wieder als Autor und tut sich mit dem Film keinen Gefallen. Paranormal Activity konnte bereits nicht mit sonderlicher Originalität oder innovativer Präsentation angeben, doch Peli zeigte hier zumindest, das weniger manchmal wirklich mehr sein kann. Chernobyl Diaries wirkt hingegen als eine Übung in abgedroschenen Horrorklischees und weniger bleibt hier einfach nur weniger.
Zunächst haben wir hier sechs völlig austauschbare Protagonisten. Diese sind allesamt attraktive junge Leute zwischen 20 und 30, perfekt für einen Horrorfilm. Gute Horrorfilme profitieren immens davon, wenn der Zuschauer tatsächlich am Schicksal der Charaktere interessiert ist. Dies ist hier nicht der Fall, man kann sich ja kaum an deren Namen erinnern. Anfängliche Versuche der Charakterisierung werden schnell fallengelassen. Besonders schade ist es für Ingrid Bolsø Berdal. Die Norwegerin absolviert hier ihren ersten US-Kinoauftritt. Berdal überzeugte auf ganzer Linie als eine der besten Scream Queens der letzten Jahre im norwegischen Cold Prey und der Fortsetzung Cold Prey II. In Chernobyl Diaries hat sie wenig mehr zu tun, als erst für Fotos zu posieren und dann schreiend vor einer unsichtbaren Gefahr wegzulaufen. Den restlichen Schauspielern ergeht es nicht anders. Es ist schon bemerkenswert, dass der bärbeißige Fremdenführer Juri letztendlich der erinnerungswürdigste Charakter bleibt – doch sein Auftritt bleibt kurz.
Dann gibt es natürlich die vorhersehbare Aneinanderreihung von Genreklischees, die selbst mit dem Horrorgenre weniger vertraute Zuschauer laut aufstöhnen lassen. Der Van springt nicht an. Die Touristen folgen gruseligen Geräuschen anstatt sich von diesen zu entfernen. Wenn gerade keine anderen bösen Wesen den Touris an den Kragen wollen, dann müssen einfach ausgehungerte Hunde oder mutierte Fische herhalten, die die Gegend permanent unsicher machen. Eine dumme Entscheidung der Charaktere wird von einer weiteren gefolgt. Wer mehr als drei Horrorfilme in seinem Leben gesehen hat, wird die Abfolge der Ereignisse hier ziemlich präzise vorhersagen können.
Dabei sind bei dem Film nicht völlig Hopfen und Malz verloren. Allein schon das Setting von Prypjat (beeindruckend rekonstruiert in Serbien und Ungarn) eignet sich hervorragend für einen spannenden Film. Schließlich wurde die Stadt sehr kurzfristig evakuiert unter der Prämisse, dass es sich dabei nur um eine kurzzeitige Maßnahme handeln würde. So bleib sie zunächst so erhalten, wie sie verlassen wurde. Leerstehende, noch vollständig ausgestattete Wohnungen, verlassene Kinderspielplätze und das eingerostete Riesenrad von Prypjat bieten eine ungemein unheimliche Kulisse für den Film. Die Einstellung des Atomkraftwerks im Hintergrund von einer Szene vermittelt schöne Bedrohlichkeit. In der ersten halben Stunde wird Atmosphäre aufgebaut (auch wenn die Charakterzeichnung da ebenfalls nicht stattfindet), die in der darauffolgenden Sunde einfach zerfällt und stattdessen sich im Dunklen bewegenden Gestalten und Off-Screen Angriffen widmet. Doch für den Großteil der zweiten Hälfte bewegen sich die Charaktere einfach von einem dunklen Raum zum anderen. Ab und zu wird eine Figur dahingerafft, doch das stört auch nicht weiter. Der Film weicht nie von ausgetretenen Pfaden ab und bleibt immer auf seinem vorhersehbaren Kurs in Richtung einer bemühten Schluss-Überraschung, die bei den meisten Zuschauern nicht mehr als ein Schulterzucken auslösen wird. Mehr kann man über den Film nicht schreiben, ohne sich ständig zu wiederholen. Kein Wunder, denn genau das tut der Film ja auch.
Übrigens ist Chernobyl Diaries trotz allem Anschein kein „Found Footage“ Film, sondern ganz „traditionell“ mit einer Handkamera gedreht. Tagebücher gibt es hier also keine, auch wenn Peli und de Regisseur Brad Parker (der vor seinem Debüt sich wohl das Handbuch „Horrorfilme für Dummys“ zu Gemüte geführt hat) tatsächlich eine kurze „Found Fotage“ Szene in den Film hineinschmuggeln, welche für eines der wenigen Spannungsmomente des Films sorgt.
Fazit
Eine nach einem Atomunglück völlig verlassene Geisterstadt ist ein wahrlich großartiges Setting für einen Horrorfilm, doch die Filmemacher machen nichts aus der soliden Grundidee und servieren hier bloß wiederverwertete Horrorkost.
Trailer
https://youtu.be/4CYrgpdacKY