Das erstaunliche Leben des Walter Mitty, USA 2013 • 115 Min • Regie: Ben Stiller • Mit: Ben Stiller, Kristen Wiig, Adam Scott, Sean Penn, Patton Oswalt, Shirley MacLaine, Kathryn Hahn • FSK: ab 6 Jahren • Kinostart: 1.01.2014 • Deutsche Website
Ein „Walter Mitty“ ist eine gewöhnliche, duldsame Person, die sich überlebensgroßen Tagträumen hingibt. James Thurbers Kurzgeschichte „The Secret Life of Walter Mitty“ aus dem Jahre 1939 machte derartige Schlagzeilen, sodass es für das überschwängliche Tagträumen im angloamerikanischen Raum sogar einen Lexikoneintrag gibt. Es ist nur logisch, wenn Hollywood bei solch Kultur-beschreibenden Zeitgeist-Phänomenen Bedarf an einer filmischen Umsetzung anmeldet. „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ von und mit Ben Stiller (als Walter Mitty) ist bereits der zweite Film (nach "Das Doppelleben des Herrn Mitty"), der sich der Tagträumerei um Walter annimmt. Der zeitgemäße Neuanstrich von Autor Steven Conrad („The Weather Man“) und Ben Stillers hochwertige Regie-Umsetzung stehen der Mitty-Geschichte wirklich gut, tragen aber vielleicht für einige Zuschauer zu dick oder zu wenig auf – je nach Geschmack.
Walter Mitty (gewohnt gut und mit Herz: Ben Stiller) arbeitet mittlerweile im 16. Jahr als Büroangestellter im Fotoarchiv des LIFE-Magazins. Ausgerechnet der über eine waghalsige Phantasie verfügende Walter sitzt eingepfercht in einem öden Kellerloch bei dem lebensfeiernden LIFE. Er scheint das echte Leben anteilnahmslos an sich vorbeiziehen zu lassen. Seit gut einem Monat arbeitet auch Neuzugang Cheryl Melhoff (Kristen Wiig, "Brautalarm") für LIFE. Der unscheinbare Walter hat ein Auge auf die Dame geworfen, traut sich aber nur in seiner regen Phantasie, das Eis zu brechen. Ein direkter Flirtversuch bleibt also mehr Traum und Schaum als Realität. Auch ein „Zwinkern“ via Online-Dating misslingt aus technischen Gründen (großartig: die Telefonate mit Tech-Support Todd Maher gespielt von Patton Oswalt, "Young Adult"). Als dann auch noch bekannt wird, das LIFE-Magazin fortan nur noch online erscheinen zu lassen, bangen die Arbeitskräfte von LIFE um ihre Jobs. Ausgerechnet das letzte Foto von Starfotograf Sean O’Connell (fast eine Karikatur von sich selbst spielend: Sean Penn), ist nicht auffindbar und der ätzende Übergangsmanager Ted Hendricks (aalglatt und fies-unsympathisch: Adam Scott, "Die Hochzeit unserer dicksten Freundin") setzt Walter die Pistole auf die Brust, das Foto für die letzte Ausgabe des Magazins aufzutreiben. Anstelle von weiteren Tagträumen tritt Walter nun aktionsreich eine epische Reise und Suche nach dem verschollenen Fotonegativ an.
Ist in James Thurbers Kurzgeschichte noch die Realitätsflucht mittels bombastischer Tagträume eine Reaktion eines unter dem Pantoffel der Ehefrau stehenden Ehemannes auf die Eintönigkeit und Unterwürfigkeit in einer dysfunktionalen Ehe, so sind die Tagträume von Walter im Jahr 2013 Ausdruck des Wunsches nach Ausbruch und Aufbruch aus der monotonen, digitalen Bürowelt. Ständige Erreichbarkeit durch Elektro-Smog-Medien mit überprüfbaren Zeitstempeln sind teilweise mehr Krücke und Käfig, als Horizont- und Weltbild-erweiternde Echtzeitmöglichkeiten. Nicht umsonst ist auch der Leitspruch des LIFE-Magazins, sich nie dagewesene und bisher lediglich erträumte Möglichkeiten und Erfahrungen am anderen Ende der Welt nicht entgehen zu lassen, sich treiben zu lassen, hingerissen sein und vor allem verschiedenste Leute treffen. Heutzutage sind Menschen derart auf Sozial-Netzwerke und irrigerweise auf die Klickmöglichkeiten des „World Wide Web“ fokussiert bzw. reduziert und beschränkt, dass auch das simple und aufrichtige Ansprechen der Herzdame auf das Senden eines „Zwinkerns“ via Online-Plattform degeneriert. Drehbuchtechnisch ist der Kniff, Walter Mitty als Verantwortlichen für das Aufbereiten der Kultur-definierenden Highlight-Fotos von Fotograf Sean O’Connell zu zeigen, sehr gut durchdacht, denn so bleibt Walter ein bloßer Beobachter bahnbrechender Momente und nimmt nur die Rolle als Zuschauer und nicht als Akteur in der Welt ein.
Die Kamera verharrt in den ersten Teilen des Films ebenfalls in einer teilnahmslosen Beobachterperspektive. Es gibt kaum große Schwenks, schnelle Schnitte oder ausgedehnte Kamerafahrten außerhalb von Walters Phantasiereisen. Einige Vogelperspektiven erlauben dem Zuschauer das stoische Herumwuseln der sich zur Arbeit drängenden Menschenmassen zu observieren, als sei dies das Einzige, was zählt – wie Beobachtungen von oben an einem Ameisenbau. Erst als Walter die Mauern des Alltags sprengt und vom Helikopter aus in unbekannte Gewässer springt, verändert sich die vermehrt starre Inszenierung um Alltags-Walter herum zu einer dynamischeren und lebhafteren. Schneidiger Heldenmut, leidenschaftliche Romantik und kontinuierlich selbstbewusstes Bezwingen von unzähligen Gefahren scheinen ab sofort nur noch eine Fingerübung zu sein.
Bereits die Kurzgeschichte Ende der 30er Jahre sorgte durch farbenfrohe Realitätsflucht für Furore. Ben Stillers (u.a. Regie bei Kriegsklamauk: "Tropic Thunder" oder bei Generation-X-Charakterstudie "Reality Bites") Umsetzung des geistigen Abdriftens seiner Hauptfigur fällt nicht zurückhaltend aus. Im Gegenteil: Visuell kreativ und mit einem poppigen, eingängigen Soundtrack unterlegt, sind die Phantasiewelten ein Fest für Ohren und allen voran für die Augen. Manch einer wünscht sich vielleicht noch viel mehr von diesen gestalterischen und originellen Einschüben, da sie schlichtweg den Film und das Innenleben von Walter prägen und obendrein manch reizärmere Passagen ansprechend überdecken. Anderen Zuschauern ist eventuell der ein oder andere Einfall aus dem Bereich Feelgood-Kitsch arg zu ausgefallen oder zu aufdringlich. Fisch schmeckt, oder schmeckt einem nicht – hier lohnt kein Streit. Für Freunde von hanebüchenen und sagenhaften Tagträumen, sei der Film jedoch bedenkenlos zu empfehlen.
„Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ ist ein unterhaltsamer und wirklich erfrischender Film mit Herz geworden. Ist es nun Abenteuer, Drama, Komödie oder gar Fantasy? Irgendwie ist es alles zusammen, aber das Gaspedal bei den phantasievollen Eskapaden gänzlich durchzudrücken, hätte dem Film sicherlich nicht geschadet. Dennoch bietet dieser Film der Geradlinigkeit des Alltags und der Eintönigkeit des Seins inbrünstig die Stirn. Lebenswege sind nicht mehr zwangsweise vorgezeichnet. Geradeaus kann jeder. Was ist mit Links oder Rechts? Menschen ruhen sich in ihrem Kokon falsch gewähnter Sicherheiten aus. Allzu nachlässig wird mit der Freiheit, 13 auch einmal gerade sein zu lassen, umgegangen. Zeitwohlstand und im Zuge dessen die Freiheit, alles zu tun und zu lassen wonach einem ist, sollten als wertvoller Bestandteil im Handlungs-Repertoire eines jedem stecken. Wer Inspiration fürs Weltenbummeln benötigt, der wird mit eindringlicher Motivation aus diesem Film beschenkt.
Sehr schöne Kritik.
Vielen Dank für das Feedback!
danke fuer die tolle kritik. ich bin auch der meinung. der film gefaellt, oder auch nicht. mir persoenlich hat er definitiv gefallen. fuer ca. 1 1/2 std mal aus dem alltag raus kommen und in eine andere welt eintauchen, dafuer ist kino doch da…