Jagten, DK/S 2012 • 111 Min • Regie: Thomas Vinterberg • Drehbuch: Tobias Lindholm & Thomas Vinterberg • Mit: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Susse Wold, Lasse Fogelstrøm, Annika Wedderkopp • Kamera: Charlotte Bruus Christensen • Musik: Nikolaj Egelund • FSK: ab 12 Jahren • Verleih: Central Film/Wild Bunch Germany • Kinostart: 28.03.2013
Das Thema Kindesmissbrauch ist nie ein leichtes, wenn es in einer Diskussion auftaucht. In seinem neuen Spielfilm „Die Jagd“ zeigt Thomas Vinterberg („Das Fest“) den Kindergärtner Lucas (Mads Mikkelsen), der sich mit einer ungeheuerlichen Anschuldigung konfrontiert sieht: Die kleine Klara (Annika Wedderkopp) gibt vor dessen Chefin an, er habe ihr sein nacktes Glied gezeigt. In der eingeschworenen, kleinen Gemeinde wird daraufhin der Prozess ohne den Angeklagten gemacht – die Schuld wird durch die Worte des Mädchens als bewiesen angesehen. Kinder lügen schließlich nicht. Oder etwa doch … ?
Ein Problem des bitteren Dramas ist zunächst, dass dem Regisseur keine zufriedenstellende Exposition gelingen will: Die Beziehungen der Figuren zueinander werden skizziert, an Konturen fehlt es allerdings. Wenn Vinterberg beispielsweise am Ende des Films hervorbringt, dass Lucas und Theo (Thomas Bo Larsen), Klaras Vater, seit ihrer Kindheit enge Freunde sind, überrascht dies doch sehr und mag nicht recht mit den vorherigen, emotional völlig unterkühlten Ereignissen harmonieren. Und wenn zu Anfang die gesamte Männerbande nackt im eisigen See badet und kurz darauf gröhlend die Bierkrüge erhebt, fühlt man sich eher an ein Sommerlager, nicht aber an freundschaftlichen Tiefgang erinnert. Anschließende Familienbilder lassen das Blut in den Adern gefrieren und auch sonst lädt hier wenig zum Aufenthalt im tristen dänischen Provinznest ein, in dem der Schrecken wieselflink seinen Lauf nimmt. Das ist in Ordnung, schließlich hat auch niemand im Vorfeld „Die Jagd“ als leichtverdaulichen Kinospaß angepriesen. Die Zuschauer sollen gefordert, schockiert, zum Denken angeregt werden – das ist Arthouse, nicht Tinseltown.
Ärgerlich ist es dann allerdings, wenn einen das präsentierte Geschehen nie wirklich packt und involviert. Wenn einen die ungekünstelten Aufnahmen schlicht kalt lassen, weil sich ihr Inhalt so fern und unwirklich anfühlt. Lucas ist ein Sympathieträger und wird von Mads Mikkelsen, der auf den letztjährigen Filmfestspielen von Cannes für seine Darstellung völlig zu Recht ausgezeichnet worden ist, spürbar natürlich verkörpert. Das, was ihm und später seinen Angehörigen (sein jugendlicher Sohn Marcus hält als einer der wenigen bedingungslos zu ihm) angetan wird, ist extrem grausam und hinterhältig. Doch wie konnte es überhaupt ohne jeglichen vorherigen Dialog zu so viel Hass gegen seine Person kommen? Wohlgemerkt von Menschen, die er – wie Vinterberg arg unglücklich vermittelt – bereits sein Leben lang kennt. Lucas leistet nie Widerstand und lässt sich herumschubsen, das ist sein Platz in der Gemeinde. Und riecht das nicht etwas stark nach ausgelutschtem Klischee in einem Film, der uns eigentlich ein Stück Wahrheit nahebringen möchte? Was sich dann letztlich anschließen soll, ist Lucas' Auferstehung als ein Mann, der für sich eintritt. Wenn nötig mit Gewalt. Kurz: Dogma 95 trifft auf Sam Peckinpahs „Straw Dogs“ (1971) – und diese Hochzeit mag nicht recht funktionieren.
„Die Jagd“, in dem Thomas Vinterberg nach seinem gefeierten „Das Fest“ ein weiteres Mal das Problem Kindesmissbrauch anschneidet, krankt vor allem daran, dass er etwas Abstraktes – die Hexenjagd auf ein unschuldiges Individuum durch den blinden, tobenden Mob – durch viele konkrete, in sich komplexe Faktoren auszudrücken versucht. Der Mob, das sind Personen, die wir mit Namen vorgestellt bekommen, die mit dem Protagonisten lachen und scherzen und eigene Geschichten besitzen. Eine Lüge wird in die Welt gesetzt, und was dann passiert, ist folgendes: Lucas wird über Nacht wie die Beulenpest gemieden. Seine ehemalige Vorgesetzte entflieht der verbalen Konfrontation gar, wie dem Angriff eines tollwütigen Hundes und auch andere Personen verhalten sich fast so eigenartig, als hätte eine „Invasion der Körperfresser“ stattgefunden. Diese Herde toleriert eines ihrer Schafe einfach nicht mehr, trotzt jeder Vernuft – jedem Anstand – und zerstört sein Leben. Ohne ihm überhaupt vorher in die Augen zu sehen. Der Beschuldigte ist von seiner Unschuld selbst natürlich überzeugt, deshalb reagiert er wohl nicht mit der nötigen Härte. Oder weil er einfach, wie bereits erwähnt, den Widerstand scheut. Er lässt es „passieren“.
Die interessanteste Figur in diesem leider frustrierend-zähen und fragmentierten Werk ist übrigens die von der jungen Annika Wedderkopp gespielte Klara. Das kleine Mädchen ist sich seiner Lüge zwar bewusst, dem Ausmaß dieser aber keineswegs. Es war eine kindliche Träumerei. Klara verirrt sich stets auf ihren Fußwegen, sie benötigt eine klare Linie, die sie führt. Das ist ein durchaus schönes Bild für die Verwirrung in ihrem Kopf – und dieses veranschaulicht obendrein auch, was Vinterbergs Film letztlich fehlt. An engagierten schauspielerischen Leistungen mangelt es nämlich nicht. In der finalen Szene fällt ein Schuss. Dieser soll wohl einfach für etwas stehen. Es ist die Schuld des Regisseurs, dass man im eigenen Kopf nun nach dem Schützen fahndet und die schlichte Bedeutung nicht einfach stehen lassen mag.
Trailer
Zwischen den Zeilen bzw. den Worten zu lesen ist wohl nicht deine Stärke Bastian. Ich habe in den letzten Jahren keinen Film gesehen, der mehr meine Gefühle angesprochen und eine solche Unruhe im Inneren verursacht hat, dass ich fast nicht mehr weitergucken wollte.
Unglaubwürdig ist die Reaktion der Gemeinschaft keineswegs: Was würdest du tun, wenn ein kleines Mädchen dir soetwas erzählt? Dem Mädchen nach deiner Vernunft nach nicht glauben? Und wenn es doch stimmt? Dann ist das Mädchen für den Rest ihres Lebens gekennzeichnet. Oder du zerstörst das Leben des Mannes, weil du ihn beschuldigst. Eine Lösung ohne stichfeste Beweise gibt es hier nicht. Einer muss leiden in dieser Situation. Rein nach der Vernunft werden Kinder auch nicht von Kirchenmännern misbraucht und dennoch geschieht es.
Schreckliche Kritik, weil der Autor anscheinend keinen Bezug zu dem Thema hat.
Lieber Frank, vielen Dank für deinen Kommentar!
Wie
aus dem Text hervorgeht, ist nicht das Thema, sondern vielmehr die eben
fragmentierte Inszenierung das, was mir hier Probleme bereitet und den
Zugang zum Film bis zum Ende erschwert hat. Dass dich "Die Jagd" so sehr
bewegt hat, freut mich wirklich! Ich denke allerdings, ich habe meine
(natürlich subjektiven) Kritikpunkte zum Film sauber ausformuliert und
stehe nach wie vor zu ihnen. Es steht dir selbstverständlich frei, eine
andere Meinung zu haben und hier eine eigene Kritik als Kommentar zu
verfassen.
Beste Grüße,Bastian
Ich weiß zwar nicht genau was du mit fragmentiert meinst, und damit, dass der Film etwas Abstraktes durch komplexe Fakroren auszudrücken versucht – wird mir aus deiner Kritik nicht klar. Ich glaube aber herauszulesen, dass du die ganzen Beziehungen und das Verhalten aller Figuren nicht glaubhaft findest. Wenn das so stimmt: das ist eine Meinung, die man vertreten kann. Ich habe nun keine hinreichenden Erfahrungen auf dem Gebiet, außer wenn so etwas mal im öffentlichen Leben passiert, da wird die Sau dann in den Medien durch’s Dorf getrieben. Kurzum: ich fand die Darstellung, gerade in einem Dorf, wo sich jeder kennt, schon glaubhaft. Dass durch Mundpropaganda so etwas wie eine Kettenreaktion entsteht und man dann schlicht gebrandmarkt ist, finde ich nicht so weit hergeholt. Insbesondere, wenn man selber Kinder hat und um dessen Wohl fürchtet, verhält man sich eben so. Wie glaubhaft das Ende ist, darüber kann man sich glaube ich viel besser streiten.
Zum ersten Punkt: Der Film selbst lässt Lücken, in Bezug dessen was im
Umfeld des Protagonisten geschieht, ohne dass wir wirklich erleben, wie
der Mob sich gegen ihn verschwört. Da ist mir vor allem die
(Über)Reaktion der Kindergärtnerin sauer aufgestoßen, die vor ihrem
sonst so gemochten Kollegen ins Freie flüchtet. Das erscheint mir dann
doch fern der Realität, zumindest nach meinen Erfahrungen aus dem
früheren Dorfleben 😉 Wer sowas nachvollziehen kann, kann das eben.
Der
zweite Punkt erklärt sich im folgenden Satz: "krankt vor allem daran,
dass er etwas Abstraktes – die Hexenjagd auf ein
unschuldiges Individuum durch den blinden, tobenden Mob – durch viele
konkrete, in sich komplexe Faktoren auszudrücken versucht. Der Mob, das
sind Personen, die wir mit Namen vorgestellt bekommen, die mit dem
Protagonisten lachen und scherzen und eigene Geschichten besitzen."
Menschen, Individien, sind einfach komlexer als ein abstraktes (von den
Individuen losgelöstes) Bild einer Hexenjagd. Kurzum: Abstraktion und
Komplexität werden hier m.M. nach nicht gut zusammengeführt, daran krankt der Film sehr.
Streiten
möchte ich mich übrigens gar nicht…Meinungen sind eben
unterschiedlich und ich habe die meine. Die meisten Kritiker und
Zuschauer mochten Die Jagd offensichtlich. Ich nicht. Aber das ist dann
eben so.
Genau das will der Film doch erreichen, der Zuschauer soll sich mit Lucas identifizieren und Menschen, die ihm nahe standen, verhalten sich plötzlich ablehnend und Lucas, bzw. wir als Zuschauer, verstehen auf einmal die Welt nicht mehr. Dieses Gefühl des Nicht-verstanden-werdens kann man aber nicht erzeugen, wenn man bis ins Detail die Gedankengänge der Nebencharaktere studiert, dieses Gefühl, als schluge dich jmd. in die Magengrube, ist dann weg. Das ist vllt Gegenstand einer Fernsehserie, aber in einen Film kann man sowas nicht reinpacken.
Schon klar, aber das gelingt dem Film eben nicht. Die engen Verhältnisse der Figuren zueinander werden ja zum Teil erst zum Schluß klar…siehe Text! Wie soll man sich in einen Film einfühlen, in dem ein Charakter von seinem Umfeld ausgestoßen wird, wenn man nicht einmal wirklich erklärt bekommt wie das Umfeld eigentlich "tickt"?
Mir egal, ob da ne gute Serie draus würde…ich würde sie nicht schauen wollen 😀 Das war´s jetzt aber nun von mir in dieser Diskussion. Die Jagd hat mich kalt gelassen – warum, das steht im Text. Wer das anders sieht darf das gern tun oder selbst ne eigene Rezension beisteuern 😉
Aus meiner Sicht ist die obige Rezension sehr schlecht gelungen, ist sie doch sehr subjektiv negativ geschrieben. Kann man diese ändern damit andere Menschen die sich für den Film interessieren durch diese Meinung nicht davon abhalten lassen den Film zu sehen?
Jede Kritik vertritt eine subjektive Meinung. Ende.