Snowtown, AUS 2011 • 120 Min • Regie: Justin Kurzel • Drehbuch: Shaun Grant • Mit: Lucas Pittaway, Daniel Henshall, Louise Harris, Richard Green, Craig Coyne • Kamera: Adam Arkapaw • Musik: Jed Kurzel • FSK: ab 18 Jahren • Verleih: Universum Film • DVD-Start: 21.09.2012 • Website
Am 20. Mai 1999 schockierte ein grausamer Fund Südaustralien: In einem ehemaligen Bankgebäude der Stadt Snowtown wurden von der Polizei acht verstümmelte Leichen in Fässern sichergestellt. Drei weitere Morde, die mit denselben Tätern in Verbindung gebracht wurden, komplettierten schließlich das, was unter dem Begriff Snowtown murders oder auch Bodies in Barrels murders in die Geschichtsbücher des Landes eingehen sollte. Ebenso wie der Name John Justin Bunting – der Drahtzieher hinter den unvorstellbaren Verbrechen. Justin Kurzels preisgekröntes Spielfilmdebüt „Snowtown“ ist nicht etwa an den anschließenden Ermittlungen oder der plakativen Darstellung der Taten selbst interessiert, sondern befasst sich mit den Personen, die an diesem schwarzen Kapitel beteiligt gewesen sind. Wir lernen unschuldige Menschen kennen, die in einen Strudel der Gewalt geraten und letztlich selbst zu Mitwissern und Komplizen werden. Wie den jungen Jamie Vlassakis (Lucas Pittaway), von dessen Blickwinkel wir die Geschehnisse miterleben. „Snowtown“ ist dabei ein frakturiertes Werk, das seinen Inhalt nicht auf konventionelle Weise breitflächig ausbreitet, sondern sich auf die Schilderung markanter Ereignisse reduziert.
Zu Beginn werden wir in das triste Leben des 16-jährigen Jamie und seiner Familie eingeführt. Seine überforderte Mutter Elizabeth (Louise Harris) hat eine Beziehung mit ihrem Nachbarn, der Jamie und seine zwei jüngeren Brüder für Nacktfotos missbraucht. Kurz darauf lernt die Frau schließlich John Bunting (Daniel Henshall) kennen, einen Mann, der sich lautstark gegen Perverse äußert und drastische Maßnahmen für das Vergehen ankündigt. John kümmert sich wie eine Vaterfigur um die Kinder und lässt Jamie direkt an seinem radikalen Weltbild teilhaben. An seiner Zimmerdecke hängt ein Konstrukt aus Fotos von vermeintlichen Pädophilen und verstörenden Zeichnungen. Personen verschwinden und hinterlassen lediglich eine Abschiedsnachricht auf einem Tonband. Sie werden Opfer des Serienkillers, der zusammen mit seinen Gefolgsmännern einen teuflischen Plan verfolgt, welcher auch Jamie und seine Angehörigen einschließt …
„Snowtown“ gehört zu jenen raren Stücken kontroversen Kinos, die es vermögen, ihr Publikum nicht durch das hochfrequente Abbilden expliziter Greueltaten zu schockieren, sondern dies vielmehr durch ihre durchgängig berunruhigende Stimmung bewerkstelligen. Oft sieht man die blutverschmierten Räume nach den Taten, aber direkt Zeuge eines Verbrechens werden wir lediglich einmal. Dieses ist dann so elend brutal und intensiv inszeniert, dass man hier keinesfalls weitere Beispiele verlangt. Das Werk ist in eine kühle Farbpalette getaucht, die die Leblosigkeit der Figuren perfekt unterstreicht: Niemand in dieser Geschichte blickt einer verheißungsvollen Zukunft entgegen; man könnte allerdings zu Anfang noch meinen, dass Bunting der fragilen Familie eine Perspektive bietet. Der Wolf kommt im Schafspelz und seine stärkste Waffe ist die geschickte Manipulation seiner Mitmenschen. John Bunting trägt keine Hockey- oder Ledermaske – er steht mit einem sympathischen, menschlichen Anlitz auf der Fußmatte. Schauspieler Daniel Henshall verleiht diesem Mann eine unberechenbare Qualität. Seine Augen können zuerst erwartungsvoll funkeln und sich schon in der folgenden Sekunde in Stein verwandeln. Man beachte außerdem seine Art zu speisen – wie ein Raubtier, das dabei gleichzeitig lauernd auf sein Umfeld späht. Vielleicht ist man zunächst gewillt, seine gewaltbereiten Ansätze nachzuvollziehen; erleben wir doch die Misshandlung der Kinder zu Beginn und eine spätere Vergewaltigung Jamies durch seinen eigenen Halbbruder hautnah mit. Da muss jemand eingreifen, mit drastischen Mitteln. Irgendwann verwischen jedoch jegliche Regeln – wenn denn da überhaupt jemals welche existiert haben. Homosexuelle, Drogenabhängige und Behinderte geraten in das Fadenkreuz der kompromisslosen Gruppe.
Regisseur Kurzel verweigert sich einer simplen Schwarzweiß-Darstellung. John ist zu Beginn ebenso ein Beschützer, wie Jamie im Verlauf widerwillig zum Mörder mutiert. Die große Kunst von „Snowtown“ besteht darin, dass wir trotz vieler fragwürdiger Entscheidungen weiterhin um das Schicksal der Familie besorgt bleiben. Das liegt zum einen an dem überaus authentischen Spiel von Newcomer Lucas Pittaway und Louise Harris, und zum anderen an dem Umstand, dass wir tatsächlich deren elende Situation mitfühlen, nachvollziehen können, und Gründe vermuten, warum Elizabeth John letztlich in ihr Haus gebeten hat: Zorn und Kraftlosigkeit. Am Ende zählt allerdings keine Entschuldigung – die buchstäbliche Hölle bricht über sie herein.
Ein Film, der ein solches, reales Ereignis schildert, sollte sich auch real anfühlen. „Snowtown“ ist so ein Ausnahmewerk. Die Ohnmacht Jamies im Bann des Bösen wird in den abschließenden Minuten in bedrückende Bilder verpackt. In einer vorherigen Szene nennt John Bunting das Töten eine australische Tradition. Am Ende führt sein Protégé ein letztes Opfer zu seinem Henker. Die scheinbar unendliche Weite dieses Landes wird einem dann schlagartig bewusst. Selbst wenn man wollte, wohin könnte man fliehen? Hier gibt es meilenweit nichts. Spannung. Ein pulsierender Soundtrack dringt aus den Boxen. Die Beute ist im Netz, aber der junge Jäger würde am liebsten nur rennen. Weg von all dem Grauen. Rennen – nur wohin?
Information zur Veröffentlichung
Die deutsche DVD und Blu-Ray-Disc sind ab dem 21. September 2012 im Handel erhältlich.
Neben dem ungekürzten Film im Dolby Digital 5.1-Format (deutsche und englische Sprachfassung) befinden sich rund 30 Minuten Bonusmaterial auf den Veröffentlichungen. Dieses besteht aus Deleted Scenes, Casting Footage, dem Filmtrailer und einem Audiokommentar von Regisseur Justin Kurzel.
(© Neue Pierrot Le Fou/Universum Film)
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