Doctor Sleep, USA 2019 • 151 Min • Regie & Drehbuch: Mike Flanagan • Mit: Ewan McGregor, Rebecca Ferguson, Kyliegh Curran, Zahn McClarnon, Emily Alyn Lind, Cliff Curtis • Kamera: Michael Fimognari • Musik: The Newton Brothers • FSK: ab 16 Jahren • Verleih: Warner Bros. • Kinostart: 21.11.2019 • Website
Wenn es um die besten Horrorfilme aller Zeiten geht, ist Stanley Kubricks „Shining“ in nahezu jeder Top-10-Liste aufzufinden. Doch wie bei jedem Meisterwerk, gibt es auch hier kritische Gegenstimmen – der prominenteste Vertreter: Der Autor der Romanvorlage, Stephen King. Zu kalt und klinisch ist dem Gruselkönig die freie Adaption unter der Aufsicht des Perfektionisten Kubrick ausgefallen. Die Geister, die in dem Bestseller den Hausmeister Jack Torrance quälten, suchte der Ausnahmeregisseur vor allem in der überforderten Psyche seines Antagonisten und auf dem Boden von dessen Whiskeyglas. Der Spuk im isolierten Overlook-Hotel diente dabei eher nur noch als Hintergrundkulisse einer Abwärtsspirale in den Wahnsinn. 1997 durfte Miniserien-Guru Mick Garris den Stoff noch einmal mit dem Segen Kings – aber ohne eigene Vision – im TV-Format runterkurbeln, bevor 2013 die Romanfortsetzung „Doctor Sleep“ folgen sollte. Mit deren Verfilmung unter dem recht irritierenden deutschen Titel „Doctor Sleeps Erwachen“ wagt Regisseur Mike Flanagan nun den nicht ganz einfachen Spagat, stilistisch an Kubricks Werk anzuschließen und trotzdem die darin vorgenommenen Story-Abänderungen im Sinne des Autoren wieder auszubügeln. Wer also die Bücher oder die Garris-Version nicht kennt, sollte sich im Vorfeld mit der Ursprungsgeschichte vertraut machen, um von gewissen Anschlüssen nicht verwirrt zu werden.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht Danny Torrance, der als Kind den blutigen Amoklauf seines alkoholkranken Vaters miterleben musste und sich als Erwachsener (Ewan McGregor) selbst mit dieser Sucht konfrontiert sieht. Danny verfügt über eine besondere Begabung, die ihn mit den wenigen Gleichgesinnten telepathisch in Kontakt treten lässt. Die durchdringenden Rufe dieses sogenannten Shining versucht er mit seinem extremen Alkoholkonsum zu unterdrücken, doch droht ihn dieser Lebensstil zunehmend zu Grunde zu richten. Der Versuch eines Neuanfangs führt ihn in eine Kleinstadt, wo der inzwischen trockene Danny eine Anstellung in einem Altenheim erhält. Dort bekommt er von den Bewohnern bald den Spitznamen Doctor Sleep aufgedrückt, da er den Sterbenden die Angst vor dem Übertritt auf die andere Seite nimmt und sie so sanft entschlafen können. Inzwischen ist er ebenfalls wieder in übersinnlichem Kontakt mit der Teenagerin Abra (Kyliegh Curran), die durch ihre besonders starken Kräfte den bestialischen Mord an einem Jungen (Jacob Tremblay) ansehen musste. Abra bittet Danny um Hilfe, denn offenbar macht eine mysteriöse Sekte mit dem Namen True Knot unter der Führung der grausamen Rose The Hat (Rebecca Ferguson) Jagd auf Träger des Shining, da das Aufsaugen der besonderen Energie ihnen ein nahezu ewiges Leben beschert …
Nicht erst mit der herausragenden Netflix-Serie „Spuk in Hill House“ hat sich Mike Flanagan einen Namen als stabile Hausmarke im modernen Horror(heim)kino gemacht. Bereits 2011 fiel der Regisseur mit seinem unheimlichen Indie-Werk „Absentia“ angenehm auf und festigte seinen Ruf als Beschwörer des schleichenden Grauens mit den Nachfolgern „Oculus“, „Before I Wake“ und „Still“ nachhaltig. Seine Adaption von Stephen Kings makabrem Roman „Das Spiel“ war die zweifellos beste Umsetzung aus dem Fundus des Autoren seit Frank Darabonts „Der Nebel“ und mit „Doctor Sleeps Erwachen“ beweist er erneut, dass sein in hypnotischen Bildern verpackter Ansatz jeden noch so erfolgreichen hyperaktiven Killerclown in der Effektivität um Welten schlägt. Mit einer Länge von über zweieinhalb Stunden entführt Flanagan die Zuschauer auf eine gefährliche Reise, während der die hellen Lichter von der sich ausbreitenden Finsternis verschluckt zu werden drohen. Anders, als das in vielen aktuellen Produktionen der Fall ist, versucht er hier nicht etwa, dem Genre durch den Einsatz vordergründiger Schocks gerecht zu werden. Irgendwo zwischen Clive Barkers magischem Detektiv-Krimi „Lord of Illusions“ und Kathryn Bigelows innovativem Vampir-Western „Near Dark“ verschmelzt der Regisseur und Drehbuchautor einen treibenden Verfolgungs-Thriller mit der emotionalen Suche einer schmerzerfüllten Seele nach Erlösung.
Auf den Schultern von Hauptdarsteller Ewan McGregor liegt zunächst die Last, das Wunderkind aus Kubricks Klassiker glaubhaft in einen gebrochenen Erwachsenen zu transportieren, dessen Vergangenheit ihn nie ruhen lassen hat. So nimmt sich der Film dann zu Beginn ausreichend Zeit, aus diesem trotz der scharfen Kanten einen letztlich sympathischen Helden zu formen. Als Herzstück und Motor der Handlung bekommt er die von der Newcomerin Kyliegh Curran exzellent verkörperte Abra zur Seite gestellt, die Danny an den Verlauf seiner eigenen Vita erinnert. Das wahre schauspielerische Highlight stellt aber die aus dem „Mission: Impossible“-Franchise bekannte Rebecca Ferguson dar. Als geheimnisvolle Rose The Hat gibt sie lange eine sinnliche Schurkin, bis eine überaus schockierende Szene sie als sadistische und kaltblütige Mörderin ins Gedächtnis brennt. Zugleich Führerin und Verführerin, lenkt sie mit ihrer Rechten Hand Crow Daddy (Zahn McClarnon) auch verirrte Begabte auf den falschen Pfad, um deren unterschiedliche Talente bei den blutigen Streifzügen auszunutzen. Während einer Konfrontation mit Rose The Hat wird deutlich, dass auch Danny aufgrund seiner Schwäche ein leichtes Opfer für die Gefolgschaft hätte werden können.
Abgesehen von einigen – sehr gelungenen! – audiovisuellen Anknüpfungspunkten an Stanley Kubricks Film ist „Doctor Sleeps Erwachen“ ein gänzlich eigenständiges Werk, das sich mit seiner emotionalen Erdung wieder mehr den Schriften Kings zuwendet, aber gleichzeitig ein echter Flanagan ist. Als minimalen Schönheitsfehler im sagenhaft atmosphärischen Grusel-Thriller lässt sich vielleicht ein etwas überhasteter erster Showdown ausmachen, der jedoch nicht weiter ins Gewicht fällt. Mit einem eindringlichen Sounddesign, das oft nur aus frostigen Windgeräuschen oder einem bebenden Herzschlag besteht, sieht der Regisseur außerdem von einer dauerhaften Musikbeschallung ab und lässt auch auf der Klangebene die Nackenhaare aufstellen. Als besonders eindrucksvoll ist hier das erste Aufeinandertreffen von Rose The Hat und Abra auf einer überirdischen, fast schon psychedelischen Ebene zu nennen.
Mit seiner epischen Laufzeit ist „Doctor Sleeps Erwachen“ eine lange aber nie langweilige Symphonie des Grauens, deren ghuliges Finale zu einem versöhnlichen Epilog leitet – und in einer der besten King-Adaptionen überhaupt mündet.