Doctor Strange in the Multiverse of Madness, USA 2022 • 126 Min • Regie: Sam Raimi • Mit: Benedict Cumberbatch, Elizabeth Olsen, Xochitl Gomez, Benedict Wong, Rachel McAdams, Chiwetel Ejiofor • FSK: ab 12 Jahren • Kinostart: 4.05.2022 • Deutsche Website
Handlung
Keine Verschnaufpause für Doctor Strange (Benedict Cumberbatch): Nachdem er kürzlich die durch seinen Leichtsinn mitverursachten Risse im Multiversum mit knapper Not flicken konnte, wartet nun der nächste Schicksalsschlag auf den ehemaligen Obersten Zauberer. Als geladener Hochzeitsgast muss er dabei zusehen, wie seine große Liebe Christine Palmer (Rachel McAdams) von einem anderen Mann vor den Altar geführt wird, während sein früherer Rivale Nicodemus West (Michael Stuhlbarg), der während des Blips seinen Bruder verloren hat, nichts als Verachtung für ihn übrig hat. Eine willkommene Ausflucht bietet sich an, als ein riesiges, einäugiges Tenktakelmonster durch die Straßen Manhattans wütet, sodass Strange mit seinem magischen Umhang davonfliegt, um es gemeinsam mit Wong (Benedict Wong) zu bekämpfen. Zu ihrer großen Überraschung stellen sie fest, dass das Monster hinter einem jugendlichen Mädchen namens America Chavez (Xochitl Gomez) her ist, das Strange bereits in seinen (Alb)träumen gesehen hat. Sie staunen auch nicht schlecht, als America ihnen offenbart, dass sie aus einem anderen Universum stammt und die Macht besitzt, durch das Multiversum zu reisen, diese jedoch nicht kontrollieren kann. Ein interdimensionaler Dämon hat es auf auf diese Superkraft abgesehen und sollte er sie erlangen, stünde das gesamte Multiversum (mal wieder) vor dem Untergang.
Um America zu beschützen, lässt Strange sie nach Kamar-Taj bringen, das Refugium für Zauberer und Zauberlehrlinge in Nepal. Für zusätzliche Unterstützung wendet er sich an seine ehemalige Mitstreiterin Wanda Maximoff (Elizabeth Olsen), die über enorme magische Kräfte verfügt, nach dem traumatischen Kampf gegen Thanos jedoch zurückgezogen lebt. Damit setzt er eine Kette von Ereignissen in Gang, die America, Wanda und ihn auf einen wilden Trip durch das Multiversum katapultieren, von dem es möglicherweise kein Zurück mehr gibt.
Kritik
"Bist du glücklich?" wird Stephen Strange in einer frühen Szene seines zweiten Solo-Abenteuers Doctor Strange in the Multiverse of Madness von seiner Ex-Freundin Christine bei ihrer Hochzeitsfeier gefragt. Er lügt und bejaht die Frage, die sich im Laufe des Films noch mehrfach wiederholt und zum übergreifenden Thema für seine Charaktere wird. Wie jeder Spider-Man-Fan weiß, folgt aus großer Kraft große Verantwortung. Für viele Helden des Marvel Cinematic Universe geht diese auch mit großen Opfern einher. Wie hoch der Preis dieses aufopferungsvollen Lebens ist, zeigte zuletzt Spider-Man: No Way Home, in dem alle drei Versionen von Peter Parker durch persönliche Verluste gezeichnet waren. Am Ende musste Tom Hollands Peter abermals ein Opfer bringen und seine große Liebe MJ aufgeben, um die Welt zu retten.
Hält das Superheldenleben, für das sie sich entschieden haben oder zu dem das Schicksal sie bestimmt hat, persönliches Glück auf lange Sicht überhaupt bereit? Und wenn man für das Allgemeinwohl immer wieder zurückstecken muss, wie lange dauert es, bis man der Versuchung erliegt, die enormen Kräfte, die einem innewohnen, dafür einzusetzen, um sein eigenes Glück zu finden – oder zu erzwingen? Schließlich sind auch Superhelden (mehr oder weniger) nur Menschen. Regisseur Sam Raimi und Drehbuchautor Michael Waldron schicken Stephen und Wanda in ihrem Film auf eine multiversale Reise, an deren Ende sie vielleicht immer noch keine genauen Antworten auf diese Fragen haben, aber um einige Erkenntnisse reicher sind.
Unterwegs bekommt Raimi, der seit neun Jahren keinen Film mehr inszeniert hat, die Gelegenheit, sich richtig auszutoben. Mit seinen ersten beiden Spider-Man-Filmen hat er zwei der besten Comicbuchverfilmungen überhaupt erschaffen. Diesen Rang läuft Doctor Strange in the Multiverse of Madness ihnen nicht ab, bietet Raimi aber mit Hexen, Dämonen, Zauberern und sogar einem waschechten Untoten die perfekte Vorlage, seine Markenzeichen und stilistischen Kunstgriffe als Horrorregisseur richtig auszukosten. Nein, In the Multiverse of Madness ist nicht Marvels erster Horrorfilm, wie einige besonders reißerische Schlagzeilen einen im Vorfeld vielleicht glauben ließen, doch er ist definitiv eine Spur unheimlicher, abgefahrener, böser und brutaler als man es von den MCU-Kinofilmen gewohnt ist.
Natürlich bewegt sich Raimi dabei innerhalb des von Disney diktierten Rahmens für einen massenkompatiblen PG-13-Blockbuster, zeigt jedoch auch, wie viel darin möglich ist. Es ist kein Film für die jüngsten Avengers-Fans, denn wir sprechen hier von gebrochenen Schädeln, herausgerissenen Augen, zweigeteilten oder auf Gitterstäben aufgespießten Menschen, verdrehten Körpern, die Spiegeln entsteigen – nicht unähnlich Samara in der berüchtigten Fernseherszene aus Ring -und einem halbverwesten Zombie in einer Schlüsselszene des Films. Dabei werden nicht nur immer wieder Erinnerungen an Raimis ikonische Evil-Dead-Trilogie (nicht nur wegen des obligatorischen, großartigen Bruce-Campbell-Cameos) wach, sondern noch mehr an seinen unterschätzten, schwarzhumorigen Drag Me to Hell, mit dem er vor 13 Jahren einen beinahe perfekten PG-13-Horrorfilm abgeliefert hat.
Dass in einer gut geölten, hochgradig durchstrukturierten Maschine wie dem Marvel Cinematic Universe Filmemacher wie James Gunn, Ryan Coogler und nun Sam Raimi dennoch die Gelegenheit bekommen, ihren Vorlieben freien Lauf zu lassen, ist höchst bemerkenswert. Zugleich ist es auch ein Zeugnis dafür, wie "kugelsicher" und souverän geführt das Universum ist, in dem solche stilistischen Ausbrüche dennoch zu einem großen Ganzen verschmelzen.
Raimis Einflüsse sind hier so stark, dass sie manchmal die anderen Stärken (und Schwächen) des Films überschatten. Zu den letzteren gehört ein etwas holpriges Drehbuch von Michael Waldron, der in der "Loki"-Serie das Multiversum-Konzept ins MCU eingeführt hat, sich hier aber fast schon zurückhalten muss. Es ist zwar kaum die Schuld des Films, dass er nur eine Woche nach dem phänomenalen, bahnbrechenden Multiversum-Abenteuer Everyhing Everywhere All at Once in unseren Kinos startet, doch um einen Vergleich kommt er nicht herum. Gegen den Indie-Film mit Michelle Yeoh, der Absurdität zur höchsten Kunstform erhebt, wirkt In the Multiverse of Madness geradezu gemäßigt, zahm und wird dem letzten Wort seines Filmtitels höchstens in einer kurzen Montage, in der Strange und America durch verschiedene Universen hindurchfallen, gerecht.
Das lässt sich jedoch leicht verschmerzen, denn im Kontext des MCU macht der Film dennoch neue Türen auf und zeigt abermals, dass Doctor Strange das visuell beeindruckendste unter allen Solo-Franchises des Filmuniversums ist. Wer auf CGI-Spektakel allergisch reagiert, wird auch hier sicherlich die Nase rümpfen, doch die digitalen Effekte sind wieder einmal – mit einigen wenigen Ausnahmen – herausragend. Das stets hohe Tempo des Films, der nie auf die Bremse drückt und mit knapp über zwei Stunden Laufzeit nach modernen Blockbuster-Maßstäben schon kurz und knackig daherkommt, sorgt auf dafür, dass man über manche Ungereimtheiten oder verpasste Gelegenheiten hinwegsehen kann.
Benedict Cumberbatch trägt die Rolle des arroganten Zauberers inzwischen wie eine zweite Haut. Obwohl es erst sein zweiter Alleingang als Doctor Strange ist, spielte er den Part auch in vier der letzten elf MCU-Filmen. Es ist leider ein Versäumnis des neuen Films, dass er die unterschiedlichen Versionen des Charakters aus anderen Universen lediglich nur wenige Minuten lang spielen darf. Newcomerin Xochitl Gomez zeigt Potenzial als fesche, aber von Schuldgefühlen geplagte America, kommt jedoch im Mittelteil des Films viel zu kurz. Benedict Wong hat immer noch ein tolles Zusammenspiel mit Cumberbatch, auch wenn er trotz Wongs Rang als Oberster Zauberer immer noch wie ein Sidekick des Titelhelden wirkt. Rachel McAdams, die im ersten Film so sehr verschwendet wurde, dass ich mich buchstäblich an keine einzige Szene mit ihr erinnern kann, bekommt hier immerhin etwas mehr zu tun, aber leider nicht viel mehr.
Der unumstrittene Star des Films ist Elizabeth Olsen als Wanda, die mehr denn je endlich zu der Scarlet Witch wird, auf die Comicfans schon lange gewartet haben. Wut, Schmerz, Verzweiflung und Entschlossenheit vermischen sich bei ihr zu einer komplexen, facettenreichen und emotionalen Performance, mit der sie nahtlos an die Disney+-Miniserie "WandaVision" anknüpft. Darin liegt auch die Krux der Sache. Habe ich im letzten Absatz meiner Kritik zum ersten Doctor Strange vor fünfeinhalb Jahren noch geschrieben, dass der Film auch weitgehend eigenständig funktioniert, erfordert In the Multiverse of Madness für optimalen Filmgenuss nicht nur Vorkenntnisse der MCU-Filme, sondern der besagten Serie. Genau genommen fühlt sich In the Multiverse of Madness über weite Strecken mehr wie eine zweite "WandaVision"-Staffel als ein Doctor-Strange-Sequel an. Seit dem Start von Disney+ war es ein erklärtes Ziel des Studios, die neuen Marvel-Serien zum Pflichtprogramm für die Fans zu machen, die auf dem Laufenden bleiben wollen. Wer "WandaVision" nicht kennt, wird sich, trotz gelegentlicher Erklärungen, etwas verloren fühlen.
Eingefleischte Marvel-Fans werden jedoch sehr auf ihre Kosten kommen, denn auf sie warten grandiose Überraschungen und Gastauftritte, bis in die Abspannszene hinein. Das Marketing zum Film hat sich nicht viel in die Karten blicken lassen und auch diese Kritik lässt bewusst viel vage. In the Multiverse of Madness profitiert davon, dass man möglichst wenig über den Film im Vorfeld weiß. Im Gegensatz zu No Way Home hat die Produktion es diesmal sogar geschafft, dass einige wirklich große Knüller, die vermutlich noch Auswirkungen auf die Zukunft des MCU haben werden, nicht schon lange im Vorfeld geleakt sind.
Fazit
Nicht seit James Gunns Guardians of the Galaxy hat ein Filmemacher einem Marvel-Film so sehr seinen eigenen, unverkennbaren Stempel aufgedrückt, wie Sam Raimi bei Doctor Strange in the Multiverse of Madness. Im halsbrecherischen Tempo nimmt er die Zuschauer auf eine visuell bombastische, gelegentlich unheimliche, sehr ambitionierte, aber auch chaotische Achterbahnfahrt, deren wilde Drehungen, Wendungen und Cameos eingefleischten MCU- und Comicfans mehr als einmal ein Jauchzen entlocken werden. Wer bislang nur die Filme aus dem Marvel-Kinouniversum mitverfolgt hat, könnte sich ohne umfassende Vorkenntnisse der "WandaVision"-Serie, deren Star Elizabeth Olsen das Highlight des Films ist, etwas verloren fühlen.
Elizabeth Olsen trägt den Film mit ihrer fantastischen Performance der Scarlet Witch. Es ist, um das mal ins rechte Licht zu rücken, ihr Film. Nach meinem gestrigen Kinobesuch war ich sehr zufrieden. Nach WandaVision wird die emotional angeschlagene Wanda zum Mittelpunkt des Geschehen im Muliverse. Strange, America und Wong bereiten die effektvollen Szenen der Scarlet Witch aber toll vor. Beide Seiten, sowohl Strange Fans als natürlich auch Wanda Fans werden mit dem Film glücklich werden.