Der 30. Geburtstag. Nicht wenige junge Menschen sehen diesem Jubiläum mit gemischten Gefühlen entgegen, denn spätestens mit diesem Alter gehört man endgültig und unwiderruflich dem Erwachsenenleben an. Und sobald man 30 ist, steuert man schließlich gefühlt direkt auf die 40 zu. Auch ich habe meinen Dreißigsten dieses Jahr gefeiert und die Wahrheit ist – es ist einfach eine Zahl wie jede andere. Man ist nicht über Nacht verändert und fühlt sich plötzlich reifer, älter, weiser usw.
Das 30. Jubiläum teile ich dieses Jahr mit einer Veranstaltung, die meine Entwicklung als Filmfan in den letzten 12 Jahren stark geprägt und begleitet hat, und für sie ist es ein echter Meilenstein. Das Fantasy Filmfest, Deutschlands größte Institution für das Genrekino und Filme abseits des Mainstreams, wird 30. Für ein Genrefilmfestival in einem Land, in dem einschlägige Filme es seit jeher nicht leicht haben (nicht zuletzt aufgrund der hiesigen Zensur), ist es eine bemerkenswerte Leistung. Alles begann 1987 in Hamburg mit etwa 1000 Zuschauern und wuchs zu einem jährlichen Ereignis mit zwei Ablegern im Frühjahr und Winter (Fantasy Filmfest Nights und Fantasy Filmfest White Nights) heran, das durch sieben deutsche Städte tourt und jedes Jahr mehr als 100,000 Besucher anlockt. Spätere Filmklassiker, Kultfilme und Kinohits wie Das Schweigen der Lämmer, Pulp Fiction, Der blutige Pfad Gottes, Scream und So finster die Nacht entdeckten die Zuschauer über die Jahre erstmals auf dem Fantasy Filmfest – in vielen Fällen noch lange bevor abzusehen war, wie groß der Hype um die jeweiligen Filme später noch werden würde. So erinnere ich mich gerne an mein erstes Fantasy-Filmfest-Erlebnis (damals blutjunge 18 Jahre alt), als ich den ersten Saw-Film im Sommer 2004 sah, lange bevor irgendjemand den Namen James Wan kannte oder ahnen konnte, dass der Film das erfolgreichste Horror-Franchise der 2000er begründen würde. Das alles passierte erst Monate später. Dafür liebe ich das Fantasy Filmfest, denn hier kann man Filme wirklich entdecken, wenn man Glück hat, dann auch unvorbelastet durch Erwartungen und Hype (so wie beim Horror-Meisterwerk It Follows vorletztes Jahr).
Wie jedes Jahr seit 2012 werde ich Euch auch dieses Jahr ausführlich von meinen Erlebnissen auf dem Fantasy Filmfest in Form eines Tagebuchs mit Kurzkritiken zu den gesehenen Filmen berichten. Wie viele Filme genau auf meinem Programm stehen werden, kann ich noch nicht sagen, denn die Ausweitung des Festivals auf 11 Tage (anstelle der ursprünglichen acht) zerrt schon am Durchhaltevermögen, doch Ihr könnt Euch vermutlich auf Eindrücke zu mindestens 35 Filmen aus verschiedensten Genres freuen: Horror, Action, Komödie, Fantasy und der eine oder andere What-the-Fuck-Film, der sich keiner Kategorie zuordnen lässt. Hier wird sich für jeden Geschmack etwas finden.
Bevor es vorgestern in Köln mit dem Hauptfilm losging, haben die Macher anlässlich des Jubiläums des Festivals eine wirklich schönes Special vorbereitet: aufgenommene Grußbotschaften von Filmschaffenden, deren Filme über die Jahre das Fantasy Filmfest prägten und die das Festival auch schon in persona besucht haben. Genregrößen wie Brian Yuzna, Stuart Gordon, John Landis, Adam Green (sein Deutsch ist, ähm, vortrefflich) und viele weitere beglückwünschten das Festival, durch das viele ihrer Filme größere Bekanntheit erfuhren und wünschten ihm viele weitere Jahre. Dem kann ich mich nur anschließen und hoffe, dass ich gemeinsam mit dem Fantasy Filmfest auch meinen 40. feiern werde.
Ach ja, es gab natürlich auch schon zwei Filme zu sehen und wenn der Auftaktfilm die Messlatte für das gesamte Filmangebot 2016 setzt, dann erwartet uns einer der besten Fantasy-Filmfest-Jahrgänge überhaupt. Eröffnungsfilme des Fantasy Filmfests haben – jedenfalls seit ich dabei bin – eine gemischte Historie und gehören eigentlich nur selten zu den besten Filmen des jeweiligen Festivals. Eine richtige "Gurke" habe ich als Opener zwar noch nicht erlebt, aber auch nur wenige wirkliche Highlights. Severance, Sightseers und Eden Lake waren schon sehr ordentliche Beiträge, die später auch meine Filmsammlung ergänzten, doch ihnen gegenüber standen auch etwas schwächere Titel wie Die Meute, Don’t Be Afraid of the Dark oder The Congress. Meistens sorgten die Eröffnungsfilme für eine gute Einstimmung auf die kommenden Tage, die dann die wahren Perlen enthalten würden. Doch dieses Jahr begann bereits mit einem kleinen Juwel der Filmkunst, das zu übertreffen es nicht einfach werden wird – Swiss Army Man.
Unten könnt Ihr mehr zu diesem Highlight und dem Exploitation-lite-Machwerk Carnage Park erfahren:
Tag 1
Manchmal ist es besonders wichtig, einen Film nicht auf seine Inhaltsangabe zu reduzieren. Als ich vor zwei Jahren meinen Bekannten und anderen Filmfans begeistert von It Follows erzählte und nach dem Plot des Films gefragt wurde, erklärte ich, der Film handle sich um einen sexuell übertragbaren Dämon, der dich nach der "Ansteckung" verfolgt, bis du stirbst. In dem Moment, als ich es erstmals ausgesprochen habe, wurde mir klar, wie dämlich das eigentlich klingt und wie wenig das dem meisterhaft inszenierten Horrorfilm gerecht wird, der mit seiner schrägen Prämisse absolut todernst umgeht, sodass sie in keiner Sekunde lächerlich anmutet. Nicht anders wird es bei Swiss Army Man sein, also auch wenn die nachfolgende Inhaltsbeschreibung sich so liest, als hätten sich Adam Sandler und Marlon Wayans den Film im Vollsuff ausgedacht, bleibt bei mir bis zum Schluss. In Swiss Army Man wird die adrett angezogene Leiche eines jungen Mannes (Daniel Radcliffe) an der Küste einer einsamen Insel angespült, just als deren einziger Bewohner Hank (Paul Dano), der dort vor etwaiger Zeit gestrandet ist, seiner Einsamkeit durch den Strick ein Ende setzen will. Die Leiche weckt seine Neugier und entpuppt sich als seine Rettung. Achtung, ab jetzt wird es seltsam: den scheinbar unerschöpflichen Vorrat an körpereigenen Gasen der Leiche, nutzt Hank, um auf ihr wie auf einem Jet-Ski zum Festland zu reiten. Dort stellt er fest, dass die Leiche durchaus redselig ist (hat aber keinen Hunger auf Gehirne). Hank nennt den freundlichen und wissbegierigen Verblichenen Manny und hofft, mit Hilfe von dessen vielen weiteren verborgenen Talenten, die von einem Süßwasser-Spender bis zu einer Kompass-Erektion (!) reichen, den Weg durch die Wälder zurück in die Zivilisation zu finden.
Zauberhaft, fantastisch, warmherzig, exzentrisch, humorvoll, originell, liebevoll. So werden nicht wenige Zuschauer diesen Film beschreiben. Infantil, dämlich, eklig, bescheuert. Auch solche Reaktionen wird man mit Sicherheit vernehmen. Es stimmt, Vieles spielt sich bei Swiss Army Man unter der Gürtellinie ab. Sogar Emotionen und Traumaverarbeitung. Denn Swiss Army Man ist weitaus mehr als eine Ansammlung an Furz-, Masturbations- und Peniswitzen (obwohl es von jeder Sorte welche gibt), sondern eigentlich eine zutiefst bewegende Auseinandersetzung mit Themen, die genau so menschlich sind, wie unsere Körpergase: Entfremdung, Freundschaft, Liebe, Ängste und Verlust. Es ist ein Film, in dem eine Diskussion über Selbstbefriedigung in einem Moment von lustig zu traurig umschwenkt und in dem ein Furz eine emotionale Szene bestimmt. Dass dieser ambitionierte Film auch trotz seiner ultraschrägen Prämisse funktioniert, ist einerseits den Erstlingsregisseuren Dan Kwan und Daniel Scheinert (die sich einfach "Daniels" nennen) zu verdanken. Mit einem guten Auge für einprägsame Bildsprache, unendlichem Einfallsreichtum und vor allem dem Mut, jenseits der Grenzen des guten Geschmacks zu gehen, beschwören sie ein unvergessliches Feuerwerk aus Bildern, Musik und spürbarer Lebensfreude herauf, das man zuletzt in dieser Form bei Benh Zeitlins magischem Erstlingswerk Beasts of the Southern Wild erleben konnte.
Doch Swiss Army Man würde nicht so gut funktionieren, wenn sich seine beiden Hauptdarsteller nicht mit kompletter Hingabe auf diesen absurden Trip eingelassen hätten. Paul Dano, anfangs kaum wiederzuerkennen mit wildem Bart, erinnert uns wieder einmal daran, dass er einer der besten jungen Schauspieler Hollywoods ist und besticht mit einer Mischung aus Traurigkeit, Melancholie und Verletzlichkeit aber auch tief vergrabener Lebensfreude, die gelegentlich an die Oberfläche sprudelt. Daniel Radcliffe macht weiterhin das Beste aus seiner post-Potter-Karriere und geht in dem schwierigen Part als Manny richtig auf. Wie ein naives Kind entdeckt er durch Hank die Welt und hilft Hank im Gegenzug dabei, mit der Welt selbst besser zurechtzukommen. Die beiden entwickelt eine unglaubliche Chemie miteinander, bei der die Grenzen zwischen Freundschaft und Romantik gelegentlich verschwimmen, doch wie auch bei allem anderen legt sich Swiss Army Man auch in dieser Hinsicht auf nichts fest. Es ist kein Film, bei dem Erklärungen zu dem Wie, dem Was und dem Warum wichtig sind. Vielmehr ist dieser einzigartige Film eine Ode an die Menschlichkeit aber auch an die Magie des Kinos ("If you don’t know Jurassic Park, you don’t know shit!"). In einer von Remakes, Reboots, Sequels, Prequels und Megablockbustern geprägten Filmlandschaft ist ein Werk wie Swiss Army Man nicht einfach eine frische Brise, sondern ein regelrechter Orkan. Kurz gesagt: der beste Eröffnungsfilm, den ich in meinen 12 Jahren Fantasy Filmfest erlebt habe. 4,5/5
Aus dem Feuer in die Traufe geht es für die junge Vivian (Ashley Bell aus Der letzte Exorzismus). Gerade noch war sie Geisel von zwei Bankräubern im Kofferraum von deren Fluchtauto und nun steht sie plötzlich auf der Abschussliste des durchgeknallten Vietnam-Veterans Wyatt (unheimlich überzeugend: Pat Healy), der es sich zur Freizeitbeschäftigung gemacht hat, Eindringlinge auf seinem Gelände mit einem Scharfschützengewehr zu jagen.
Der Mensch als ultimative Beute – das haben wir bereits in der Filmgeschichte mehrfach gesehen, darunter in Der Todesmutige von Cornel Wilde, Surviving the Game von Ernest R. Dickerson und Strafpark von Peter Watkins. Letzterem huldigt Carnage-Park-Regisseur Mickey Keating nicht nur mit seinem Filmtitel. Überhaupt ist Carnage Park ein Sammelsurium aus Versatzstücken, Referenzen und Verbeugungen, das unmissverständlich an die Werke von Tarantino, Peckinpah und Rob Zombie angelehnt ist. Das alleine ist natürlich kein Qualitätsurteil, denn schließlich hat auch Tarantino seine gesamte Karriere auf Hommagen und Huldigungen aufgebaut. Beim 25-jährigen Macher von Carnage Park sieht die angestrebte Coolness zuweilen aber doch arg bemüht aus, insbesondere in der Anfangsphase des Films, die uns informiert, der Film beruhe auf einer der bizarrsten Episoden der US-amerikanischen Kriminalgeschichte (und enthält vermutlich in etwa so viel Wahrheit wie Django Unchained). Der vermasselte Banküberfall, den wir nicht zu sehen bekommen, stammt direkt aus Reservoir Dogs und Retro-Popmusik sowie Namenseinblendungen von Charakteren wie "Scorpion Joe" erwecken eher das Gefühl einer Amateurkopie von Tarantino.
Doch Carnage Park fängt sich überraschend gut, sobald er diese aufdringlichen Stilmittel fallen lässt und Vivians Überlebenskampf beginnt. In diesen Momenten zeigt der junge Regisseur (es ist bereits sein vierter Spielfilm!), dass sein inszenatorisches Talent über reines Kopieren seiner Idole hinausgeht. Zwar erinnert diese Sektion des Films in ihrer Ästhetik stark an Rob Zombies Exploitation-Werke wie The Devil’s Rejects oder Haus der 1000 Leichen, das stört jedoch die Spannung und die leicht surreale Atmosphäre nicht. In diesen Momenten geht Carnage Parks unangenehmes Ambiente langsam aber sicher unter die Haut und Keating schreckt sich auch nicht vor einigen sparsam eingesetzten und deshalb wirkungsvollen drastischen Gewaltdarstellungen zurück. Leider nimmt er sich ausgerechnet beim großen Finale wieder den Mund zu voll, mit der ungewöhnlichen Entscheidung, nahezu den kompletten finalen Showdown in absolute Finsternis zu tauchen. Was zunächst noch nach einem mutigen Ansatz aussieht, führt nach einiger Zeit dazu, dass man als Zuschauer abschaltet und so aus dem zuvor spannenden Geschehen herausgerissen wird. Schade, denn davor befand sich der Film auf gutem Weg zu einem kleinen, fiesen Exploitation-Schocker. 3/5
____________________________________________________
So viel zu meinem ersten Tag beim Fantasy Filmfest 2016 in Köln. Zehn weitere Ausgaben werden folgen und in der nächsten könnt Ihr Euch auf meine Meinung zu gleich fünf neuen Filmen freuen, darunter Darren Lynn Bousmans Abattoir und Kevin Smiths Yoga Hosers.