Nach fünf Filmen am zweiten Tag des Fantasy Filmfests 2016 in Köln, ging es am Tag 3 mit nur zwei Filmen auf dem Programm etwas entspannter zur Sache. Dafür waren es gleich zwei Beiträge, die schon im Vorfeld herausragten. The Girl with all the Gifts, die Adaption von Mike Careys intelligentem Zombieroman, galt seit seiner Ankündigung als Teil des diesjährigen Filmangebots als eins der größten potenziellen Highlights und Zuschauermagnete des Festivals und war dementsprechend schon Tage im Voraus restlos ausverkauft. Wer kann schließlich einem Zombiefilm mit Glenn Close widerstehen? Der andere Film wurde hingegen mit der prestigeträchtigen Platzierung als diesjähriges Centerpiece geehrt und dass die Ehre einem indischen Film zuteil werden würde, haben auch nicht viele erwartet. Doch Psycho Raman sollte ganz anders werden als die Bollywood-Schinken, die man als westlicher Kinogänger für gewöhnlich mit Indien verbindet. Düster, kompromisslos und an die Grenzen des in Indien von der Zensur Tolerierten gehend – so wurde Psycho Raman angepriesen. Ob die beiden Filme ihre Versprechen halten konnten, erfahrt Ihr unten in meinen neuen Kurzkritiken vom Festival.
Tag 3
Eigentlich wollte der indische Kultregisseur Anurag Kashyap einen Film über Raman Raghav alias Psycho Raman (oder auch Sindhi Dalwai) drehen, den berüchtigten indischen Serienkiller, der in den Sechzigern mehr als 40 Menschen zu Tode prügelte, bis er von der Polizei gefasst wurde und den Rest seines Lebens im Gefängnis verbrachte. Psycho Raman, auch bekannt unter dem vielsagenden Titel Raman Raghav 2.0, handelt nicht von diesem Mann. Davon setzt uns eine Texteinblendung gleich zu Filmbeginn in Kenntnis. Es bleibt einer der wenigen wirklich originellen Kniffe des Films, der krampfhaft versucht, so anders zu sein, letztlich aber so gewöhnlich bleibt. Ohne die finanziellen Mittel, einen historischen Film mit einem Sechziger-Setting überzeugend zu inszenieren, entschied sich Kashyap dafür, die Geschichte kurzerhand als Parallele in die Gegenwart zu verlegen. Darin tritt der auf den ersten Blick unscheinbare Ramanna (Nawazuddin Siddiqui) in die Fußstapfen seines Namensvetters und mordet sich mit Radschlüssel oder, falls nicht zur Hand, gebogener Eisenstange durch die Slums und Siedlungen von Mumbai. Angesetzt auf den Fall ist der permanent zugekokste, arrogante Polizist Raghav (Vicky Kaushal), der sich sogar am Tatort das Näschen pudert.
Polizisten und Kriminelle sind sich überhaupt nicht unähnlich. Das ist der nicht gerade bahnbrechend innovative Standpunkt des Films, der sich angesichts der Lobeshymnen als eine bittere Enttäuschung herausstellte. Psycho Raman hat mit dem klassischen Bollywood tatsächlich herzlich wenig zu tun. Tänze und Gesang gibt es hier weit und breit nicht, auch wenn (untertitelte) Songs im Hintergrund bestimmter Szenen gezielt eingesetzt werden, um diese mit der Subtilität eines Vorschlaghammers zu ergänzen. Die Inszenierung des Films ist sehr energisch, mit einem sehr aggressiven Einsatz von Musik und grellen Bildern, und das indische Setting sowie die Verfolgungsszenen in den Slums bieten optisch immerhin eine Alternative zu den ähnlich gelagerten Filmen aus dem Westen.
Inhaltlich kann Psycho Raman leider wenig punkten. Die Dualität zwischen dem Jäger und dem Gejagten hätte interessant sein können, wenn beide Seiten der Gleichung ebenbürtig wären. Nawazuddin Siddiqui ist elektrisierend als Killer, der in Sekundenschnelle von einem unauffälligen Kerl zu einem kompletten Psychopathen umschwenkt. Eine Szene im ersten Filmdrittel, in der er seine potenziellen Mordopfer in deren Wohnung terrorisiert, ist das Highlight des Films. Leider verliert Psycho Raman ihn aber häufig aus den Augen und folgt Vicky Kaushals Junkie-Cop Raghav. Der Charakter bleibt bis zum Ende eine leere Hülle, auf die der Regisseur zwar seine Ideen projiziert, die er aber nie wirklich von dem Charakter auszugehen scheinen. Wir erfahren herzlich wenig über Raghav. Er nimmt Drogen als gäbe es keinen Morgen und ist ein komplettes Arschloch, das Harvey Keitels Bad Lieutenant geradezu engelsgleich wirken lässt. Doch sein Charakter und dessen Darsteller üben im Gegensatz zu seinem Gegenspieler (oder seiner zweiten Hälfte, wie der Film stattdessen postuliert) keinerlei Faszination aus. Stattdessen wird der Film jedes Mal zähflüssig, wenn wir Raghav dabei begleiten, wie er Frauen schlecht behandelt, sich zudröhnt oder seine Machtposition als Polizist ausnutzt. Zusätzlich bemüht sich der Film um eine Aussage über die Stellung der Frau im modernen Indien, versagt aber ironischerweise selbst dabei, irgendeine Frauenfigur in dem Film mit interessanten Attributen auszustatten. Sie sind lediglich hier lediglich Opfer, Mittel zum Zweck, die darauf warten, ausgenutzt oder getötet zu werden. 1,5/5
Man würde eigentlich meinen, dass man dem Zombiekino heutzutage kaum Neues abgewinnen kann. Es stimmt, dass The Girl with all the Gifts, die von Mike Carey geschriebene Filmadaption seines eigenen Romans "Die Berufene", das Rad des Genres nicht komplett neu erfindet. Ein wenig "The Last of Us" lässt sich hier wiedererkennen, ein bisschen I Am Legend da. Doch der Streifen ist keineswegs eine zusammengeklaute Collage und die Erinnerungen an andere Werke zeugen lediglich davon, wie gut erforscht das Genre in allen Medien ist. The Girl with all the Gifts hat dennoch eine eigene Identität und ist der interessanteste Beitrag zum Thema Zombies seit Jahren. Für einen Endzeit-Horrorfilm ist die Besetzung aus Paddy Considine, Gemma Arterton und der Hollywood-Größe Glenn Close überraschend namhaft, doch der Film gehört nicht ihnen, sondern seiner Protagonistin, gespielt von der Newcomerin Sennia Nanua. Sie ist Melanie, ein aufgewecktes Mädchen, das gemeinsam mit etwa zwei Dutzend Gleichaltrigen in Zellen auf einer Militärbasis gehalten wird.
Wir erfahren im ersten Akt des Films, dass ein mutierter Pilz einen Großteil der Bevölkerung von Großbritannien zu "Hungries" mutieren ließ (aber wir können der Einfachheit halber einfach von Zombies reden). Auf Kinder, die jedoch bereits im Mutterleib infiziert wurden, hatte der Pilz eine etwas andere Wirkung, insofern als dass sie ihre kognitiven Fähigkeiten nicht eingebüßt haben und deshalb auch die einzige Hoffnung auf ein Heilmittel darstellen. Aus diesem Zweck werden die Kinder auf der Basis gehalten und von der Wissenschaftlerin Dr. Caldwell (Glenn Close) gelegentlich zu Studienzwecken seziert. Für die meisten dort sind sie nicht mehr als Monster, deren Zombie-Instinkte nur durch ein Gel im Zaum gehalten werden, das den Geruch der Menschen überdeckt. Die junge Lehrerin Ms. Justineau (Arterton) entwickelt jedoch eine emotionale Beziehung zu den Kindern und insbesondere zu Melanie. Diese bleibt auch bestehen, nachdem Paddy Considines Soldat ihr effektiv vorführt, was passiert, wenn Melanie ihren echten Geruch wittert. Just in dem Moment als Melanie unters Skalpell soll, wird die Basis in einer rasanten, den Puls nach oben treibenden Szene überrannt und nur einige wenige Überlebende können dem Gemetzel entfliehen – Caldwell, Justineau, drei Soldaten und Melanie, die aus Sicherheitsgründen, mit einer Hannibal-Lecter-Maske ausgestattet, auf dem Truckdach festgeschnallt wird.
Die junge Sennia Nanua ist eine Offenbarung. Nicht seit Lina Leandersson in So finster die Nacht habe ich eine so überzeugende Performance von einem Kind in einem Horrorfilm gesehen. Ihr Kampf gegen ihre Instinkte, wenn das Gel seine Wirkung langsam nachlässt, ist fast genau so schmerzhaft anzusehen, wie die Szene, in der sie die Wahrheit über ihre Herkunft erfährt. Obwohl sie ihnen die Show stiehlt, leisten auch die erwachsenen Darsteller ihren Beitrag. Glenn Close bringt die nötige Gravitas zu der Rolle und hat mehr Nuancen als man von einer besessenen Wissenschaftlerin in einem Zombiefilm vielleicht erwarten würde. Gemma Arterton setzt den Trend fort, dass sie ihre besten Performances in Filmen abliefert, die beim Fantasy Filmfest laufen. Nach Spurlos – Die Entführung der Alice Creed und Byzantium ist es eine weitere gute Darbietung von der häufig unterschätzten jungen Engländerin. Sie ist das leuchtende Herz unter den Überlebenden.
Auch ohne ein gigantisches Hollywood-Budget erschafft Regisseur Colm McCarthy ein beeindruckendes Bild einer Welt nach ihrem Untergang und der Rückeroberung durch die Natur. Trotz bekannter Elemente, sind die zahlreichen Spannungsmomente (zum Beispiel, wenn sich die Überlebenden durch Horden von schlummernden Zombies unauffällig bewegen müssen) sehr effektiv in Szene gesetzt. The Girl with all the Gifts ist intelligentes und emotionales Genrekino, das zwar nicht auf die üblichen Versatzstücke verzichtet, sie aber wohl dosiert einsetzt. Zombies mögen abgedroschen sein, aber so lange das Thema immer noch Filme wie diesen hervorbringt, dann sehe ich für das Subgenre auch eine Zukunft. 4/5
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Daniel Radcliffe als furzende Leiche war klasse. Doch wie macht er sich als Undercover-Agent unter US-amerikanischen Neonazis? Das verrate ich in der nächsten Ausgabe des FFF2016-Tagebuchs, in dem es um seinen Thriller Imperium gehen wird sowie um den Body-Horrorschocker Antibirth und das ruhige Endzeit-Drama Here Alone.
Bisherige Ausgaben:
Tag 1 (Swiss Army Man, Carnage Park)
Tag 2 (The Ones Below, Deep in the Wood, Abattoir, Yoga Hosers, Trash Fire)