Liebe Filmfutter-LeserInnen,
es ist soweit – sechs Fantasy-Filmfest-Tage liegen jetzt hinter mir und damit ist die Hälfte des Festivals in Köln erreicht. Letztes Jahr hätte das noch bedeutet, dass nur noch zwei Tage vor mir liegen und ich so langsam das Fazit vorbereiten sollte, doch diesmal erwarten mich noch weitere sechs Tage und noch mindestens 18 weitere Filme. Hinter mir liegen schon 19 und zu den besten darunter gehörten auch zwei, die ich am 6. Tag gesehen habe – der (psychisch) ultraharte Thriller The Treatment aus Belgien und The Voices, der vielleicht ungewöhnlichste Serienkiller-Film, den Ihr je sehen werdet. Das unter dem Motto "Beat the Silence" aufgeführte filmmusikalische Experiment, bei dem Jean Epsteins Der Untergang des Hauses Usher mit moderner House- und Electro-Musik untermalt wurde, kann ich zwar nicht als vollkommen gelungen bezeichnen, ein überaus interessantes Erlebnis mit Mut zum Risiko war es aber allemal. Und nun in Detail:
TAG 6
Was haben Filme wie Die purpurnen Flüsse, Miserere – Choral des Todes und Das Imperium der Wölfe gemeinsam? Es sind allesamt französische Thriller, basierend auf Romanvorlagen von Jean-Christophe Grangé. Doch es ist noch etwas, was sie verbindet. Alle drei bauen gekonnt ein spannendes Mysterium auf, erzeugen eine dichte Atmosphäre und fesseln den Zuschauer, der auf die Erklärung der seltsamen Vorgänge wartet – nur um am Ende eine wirklich hanebüchene Erklärung zu servieren, die den gesamten Film in ein deutlich schlechteres Licht rückt. Das trifft auf Die purpurnen Flüsse noch im etwas geringeren Ausmaße zu, als auf die anderen beiden. Die französisch-belgisch-luxemburgische Ko-Produktion The Brotherhood of Tears basiert zwar nicht auf einem Werk von Grangé, leidet aber unter genau dem selben Problem und ist stilistisch und thematisch eigentlich eine Imitation von Grangé-Verfilmungen. Jérémie Renier spielt einen ausgebrannten Ex-Cop. Früher ein Star der Pariser Polizei, kann der alleinerziehende und stets unter Geldnot leidende Vater mittlerweile nicht mal seinen Job als Fensterputzer behalten. Da bekommt er ein Job-Angebot, das er nicht ausschlagen kann. Für Unsummen von Geld soll er in einem leeren Bürohaus tagein, tagaus sitzen und auf Anrufe warten. Diese kommen erst viele Tage später und verlangen von ihm, dass er einen mysteriösen Koffer an bestimmte Empfänger ausliefert. Diese befinden sich mal in China, mal in Belgien, mal in der Türkei. Zu beachten gilt: er darf sich niemals verspäten und er darf unter keinen Umständen den Koffer öffnen. Ihm wird versichert, dass darin nichts Illegales sei. Als Chevalier die Sache aber über den Kopf wächst und er aussteigen möchte, merkt er, dass man bei seinem Arbeitgeber nicht einfach kündigen kann…
Der Vergleich mit den Grangé-Verfilmungen anfangs war nicht beliebig. The Brotherhood of Tears reiht sich wirklich perfekt unter diese Filme ein und fällt qualitativ irgendwo zwischen Die purpurnen Flüsse und Choral des Todes. Auch hier steht ein hochtalentierter Cop bzw. Ex-Cop mit einer düsteren Seite im Mittelpunkt. Jérémie Renier liefert eine überzeugende Performance ab, als ein Mann, der sich vom Geld verführen lässt, sich aber nie wohl dabei fühlt. Die Frauenrolle von Audrey Fleurot als ambitionierte Polizei-Archivarin, die Chevalier hilft, bleibt aber sehr eindimensional und letztlich verschenkt. Die erste Stunde baut das Mysterium seiner Auftraggeber gekonnt auf und steigert konsequent die Folgen von Ungehorsam und Verfehlungen seitens von Chevalier. Doch wenn es dann gegen Ende daran geht, nach einer (an den Haaren herbeigezogenen) Schnitzeljagd, das Geheimnis zu lüften, versagt der Film. Die ziemlich verrückte Erklärung wird im großen Finale fast nur beiläufig in den Raum geworfen, die zuvor allmächtig scheinenden Drahtzieher erweisen sich als gar nicht so bedrohlich oder allmächtig, wenn man sie erst einmal trifft. Überhaupt fällt der Film gegen Ende deutlich ab. Das wirkt sich umso enttäuschender aus, angesichts der davor gekonnt aufgebauten Spannung. 3/5
Kaum ein Verbrechen ist so schlimm, pervers und ruft bei allen so heftige Reaktionen hervor, wie sexueller Missbrauch von Kindern. Diesem heiklen Thema widmet sich The Treatment, die Adaption des Romans "Die Behandlung" von Mo Hayder. Obwohl Hayder eine erfolgreiche englische Krimiautorin ist, kommt die erste Verfilmung von einem ihrer Romane ausgerechnet aus Belgien. Angesichts des Falls "Marc Dutroux" (Kinderschänder und -mörder) und des Verdachts eines größeren Kinderpornografie-Rings in Belgien, erhält der Film natürlich eine besondere Note dank seinem Herkunftsland. In The Treatment wird aus dem Romanhelden Jack Cafferey, der flämische Polizist Nick Cafmeyer (Geert Van Rampelberg), der nach Jahrzehnten immer noch unter den Folgen der nie geklärten Entführung seines kleinen Bruders leidet. Der damals verdächtige, aber nie überführte Pädophile Ivan Plettinckx (Johan van Assche) quält Nick mit Briefen und ständigen Andeutungen, er wüsste die Wahrheit über seinen Bruder. Während ihn sein persönliches Trauma nicht loslässt, wird er im Rahmen seiner Arbeit mit einem grausamen Fall konfrontiert. Eine Familie wurde brutal angegriffen, tagelang in Gefangenschaft gehalten, während der kleine Sohn der Familie missbraucht und entführt wurde. Einige Tage später wird die Leiche des Jungen gefunden, doch es wird schnell klar, dass der kranke Mörder nicht aufhören wird. Hat der Fall womöglich eine Verbindung zum Verschwinden von Nicks Bruder? Schafft er es, den Mörder zu finden, bevor eine andere Familie das gleiche grausame Schicksal ereilt? Und was hat es mit dem "Troll" auf sich, von dem viele Kinder aus der Gegend reden? Auf der Suche nach der Wahrheit begibt sich Nick Cafmeyer in die Abgründe der Gesellschaft und seiner eigenen Seele. Doch die Wahrheit ist noch viel schrecklicher, als man sich das ausmalen kann.
The Treatment behandelt ein schwieriges, unangenehmes Thema und je mehr sich Stück für Stück dem Zuschauer (und dem Protagonisten) das ganze Bild offenbart, desto unangenehmer wird es. Ohne zu viel zu verraten: einer der Haupt-Twists bei Cafmeyers Ermittlungen ist ziemlich krank. Durch plötzliche Erkenntnis, dass das bereits als äußerst grausam empfundene Verbrechen noch einen Tick perverser und abgefuckter war, als man dachte, werden sich sogar bei den hartgesottenen Krimifans die Nackenhaare sträuben. Es ist eine düstere und gnadenlose Welt, in die Mo Hayder und Regisseur Hans Herbots uns hier entführen. Mehrere Charaktere müssen hier "Sophies Entscheidung" treffen, nicht zuletzt auch unser Protagonist, der sich zwischen dem moralisch richtigen Verhalten und dem sehnlichen Wunsch nach Abschluss entscheiden muss. Die richtige Wahl gibt es für niemanden, man verliert in jedem Fall. Auch wenn der Film gegen Ende einige lichte Momente ermöglicht, verweigert er dem Zuschauer das Happy End.
Trotz einer Laufzeit von über zwei Stunden, kommt nie Langeweile auf und die Geschichte fesselt über die nahezu gesamte Laufzeit. Hier werden falsche Fährten gelegt, durchaus glaubwürdige und selten übertriebene Wendungen aufgeworfen und ein Bösewicht präsentiert, der widerwärtiger kaum sein könnte. Abzüge gibt es lediglich, wenn es ans Finale geht. Die Lösung des Falls beruht zu sehr auf plötzlich aufgetauchten Erinnerungen und schnellen Schlussfolgerungen und wenn es dann etwas actionreich wird, macht der Protagonist ungewöhnlich viele Fehler für einen erfahrenen Polizisten. Schade, denn ein wirklich dichtes Finale hätte The Treatment wahrscheinlich zu einem großen Meisterwerk abgerundet. Aber auch so bleibt dieser erschütternde, tiefgründige und hochkomplexe Thriller eins der größten Highlights der diesjährigen Fantasy-Filmfest-Ausgabe. 4/5
Filme über Serienkiller gibt es wie Sand am Meer. Aber keiner davon ist wie dieser. Nach dem etwas enttäuschenden Film Huhn mit Pflaumen, gelang der französischen Persepolis-Regiseurin Marjane Satrapi mit ihrem ersten englischsprachigen Werk ein schräger Trip in die lustige, traurige, düstere, bunte und vor allen Dingen vollkommen durchgeknallte Welt eines netten Kerls, der blöderweise an einer wahnhaften Schizophrenie leidet, die bereits seine Mutter in den Tod getrieben hat. Ryan Reynolds, der hier völlig neue und bislang ungekannte Facetten offenbart, spielt den liebenswürdigen, wenn auch seltsam verschrobenen Jerry, der in einer Fabrik arbeitet und dort für die hübsche, aber an ihm wenig interessierte Engländerin Fiona (Bond-Girl Gemma Arterton) schwärmt und gar nicht merkt, dass die schüchterne Lisa (Anna Kendrick) einen Narren an ihm gefressen hat. Zu Hause redet Jerry mit seinen zwei besten Freunden – dem Hund Bosco und der Katze Mr. Whiskers. Sie antworten ihm auch. Mr. Whiskers – mit einem überspitzten schottischen Akzent – ist dabei die dunkle Seite seiner Seele (natürlich muss eine Katze böse sein), die ihn immer zu manipulieren versucht. Boscos tiefe Stimme ist hingegen die Stimme der Vernunft und der Besonnenheit. Seiner fürsorglichen und verständnisvollen Therapeutin (Jacki Weaver) erzählt Jerry von dem Stimmen nichts, gibt aber kleinlaut zu, seine Medikamente nicht zu nehmen. Doch je mehr die Stimmen Einfluss auf sein Leben nehmen, desto mehr gerät sein Leben aus den Fugen und Jerry entdeckt, dass er möglicherweise eine ganz dunkle Seite in sich trägt.
Humorvolle Filme über Serienkiller gab es natürlich bereits. Das beste Beispiel ist dabei natürlich American Psycho. Doch während American Psycho als eine Gesellschaftssatire funktionierte, ermöglicht The Voices einen tollen und überraschenderweise akkuraten Einblick in den Verstand eines zutiefst gestörten Individuums, dem seine Probleme gelegentlich bewusst werden, er aber von den Impulsen einfach überwältigt wird. Sicher, Jerrys Ausprägung der Wahnstörung ist ein extremes Beispiel, doch es ist nicht an den Haaren herbeigezogen, was ich in Filmen wirklich zu schätzen weiß. Marjane Satrapi inszeniert den Film mit einer unglaublichen Leichtigkeit und farbenfrohen Kulissen und Kostümen, da wir die Welt meistens durch Jerrys rosarote Brille sehen. Verlassen wir aber mal ausnahmsweise seinen Blick auf die Dinge, sieht es schon anders aus. Letztendlich steht und fällt The Voices aber mit Ryan Reynolds' Performance und diese ist oscarrreif (ich hätte nie gedacht, dass ich das mal über ihn schreiben würde!). Am Anfang noch so liebenswert, dass es irgendwie unangenehm ist, blitzen sein innerer Konflikt und seine dunkle Seite im Verlauf des Films immer mehr auf. Genial ist auch seine Stimmarbeit, denn er lieh auch Bosco und Mr. Whiskers (coolste Filmkatze aller Zeiten!) seine Stimme sowie einigen anderen "Figuren", die an dieser Stelle aber nicht verraten werden. Klar, das "Hund ist die gute Seite, Katze ist die böse Seite"-Muster ist sehr simpel gestrickt hier und nicht alle Momente des schrägen schwarzen Humors funktionieren so gut, wie der Film es wahrscheinlich gerne hätte, doch alles in allem ist The Voices ein wunderbar skurriler Streifen, der trotz seiner lustigen Momente nie den traurigen Unterton der Geschichte vergisst. Einen wunderbaren Eindruck hinterlässt auch eine völlig durchgeknallte Abspannssequenz (nur 22 Jump Street hatte dieses Jahr einen noch besseren Abspann). 4/5
The Fall of the House of Usher (Der Untergang des Hauses Usher)
Nun sind wir bei dem wahrscheinlich am schwierigsten zu bewertenden Film des diesjährigen Fantasy Filmfests angelangt. Als wäre es für einen jungen, mit modernen Filme aufgewachsenen Menschen wie mich nicht schon schwierig genug, einen Stummfilm-Meilenstein objektiv zu bewerten, erstrahlte The Fall of the House of Usher (Der Untergang des Hauses Usher) von Jean Epstein beim diesjährigen FFF im ganz neuen Glanz. Damit meine ich nicht (nur), dass dort eine brandneu von der Cinémathèque française restaurierte Fassung der Edgar-Allan-Poe-Verfilmung aus dem Jahre 1928 gezeigt wurde. Das Augenmerk lag stattdessen an der musikalischen Begleitung. Anstatt der für Stummfilme üblichen klassischen Musik, wurde unter dem "Beat the Silence"-Banner ein ganz besonderer Mix aus Deep House und Electro vom israelischen DJ Shahaf Thaler für den Film abgemischt. Die Idee war, dass The Fall of the House of Usher filmtechnisch seiner Zeit bereits deutlich voraus war und deshalb auch einen komplett modernen musikalischen Ansatz vertragen könnte.
Doch wie bewertet man das? In diesem Falle, habe ich eigentlich keine Wahl, als zwei Noten zu vergeben – eine für den Film selbst und eine weitere für das Gesamt-Experiment. Doch nun kurz zu dem 63-minütgen Streifen selbst. Von Jean Epstein und dem legendären Surrealisten Luis Buñuel für die Leinwand adaptiert, erzählt der Film die Geschichte von Allan (Charles Lamy), dem Erzähler und Helden des Films, der seinen sonderbaren Freund Roderick Usher (Jean Debucourt) auf dessen Anwesen besucht. Usher ist davon besessen, ein Portrait von seiner Frau Madeleine (Marguerite Gance) zu malen. Dieses scheint ihr jedoch die Lebenskraft zu rauben. Oscar Wildes "Dorian Gray" lässt also grüßen.
The Fall of the House of Usher ist nicht für Jedermanns Geschmack und damit meine ich sogar die Liebhaber von Stummfilmen. Es ist ein avantgardistisches, surreales (Buñuels Handschrift ist unverkennbar) und für seine Zeit wirklich experimentelles Werk, das mit schnellen Schnitten, Perspektivenwechsel, Fade-Outs und Prismen-Bildern anders aussieht, als das meiste aus dessen Ära. Auf kohärente, in sich stimmige Handlung wird zugunsten des Aufbaus einer unheimlich-düsteren, gotischen Atmosphäre verzichtet. Ausdrucksstarke Bilder und Debucourts zwischen Lethargie und Wahnsinn schwankende Performance hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Was die moderne Musik angeht – das Experiment ist nur zum Teil gelungen. Entgegen meinen Befürchtungen, waren die Stücke nicht vollkommen unpassend. Tatsächlich fand ich die Musik sogar recht stimmig, aber fast ausschließlich, wenn keine Lyrics zu hören waren. Diese wurden zwar offensichtlich auf manche Szenen abgestimmt, doch sie zogen sich auch über Szenen hinweg, sodass mehrere Szenen mit unterschiedlicher Grundstimmung vom selben Lied untermalt wurden. Von daher lag das Problem nicht an der Musik selbst, sondern v. a. an mangelnder Abstimmung zwischen der jeweiligen Musik und den Szenen. Gewöhnungsbedürftig ist es allemal, doch insbesondere in der zweiten Hälfte des Films verleihen die Beats dem Film eine zusätzliche Energie. Das Experiment mag nicht komplett erfolgreich gewesen sein, doch ich lobe mir den Mut, etwas Neues auszuprobieren und damit auch den unvermeidlichen Zorn einiger Cineasten zu riskieren. Film: 4/5 Als musikalisches Experiment: 3/5.
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Der achte Tag wird wieder etwas ruhiger und es werden "nur" drei Filme geschaut. Ihr könnt Euch auf Kurzkritiken zum Sekten-Thriller Faults, dem Alien-Horror Extraterrestrial von den Regisseuren von Grave Encounters und das ungewöhnliche isländische Heavy-Metal-Drama Metalhead freuen, das bereits in anderen Städten als Geheimtipp des Festivals gehandelt wurde.
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