Bereits am Donnerstag startete das Filmfest Hamburg in seine 24. Ausgabe. Eröffnet wurde das Festival von und mit Ewan McGregor (Trainspotting). Der gebürtige Schotte leitete höchstpersönlich den Abend ein und präsentierte sein in der Zeit des Vietnamkriegs angesiedeltes Familiendrama Amerikanisches Idyll. Am Morgen nach dem ersten Trubel, als sich die Gäste der Eröffnung wahrscheinlich gerade mit Restalkohol im Blut und einem Geschmack von Asche im Mund in ihren Betten umdrehten, stieg ich gerade in meinen Fernbus, der mich von Berlin in die Hansestadt bringen sollte. Nach 5 Stunden Schlaf, 3 Stunden Busfahrt und einem Brötchen als Ersatz-Frühstück war ich also da, stieg zu einem Taxifahrer mit deutlichem Kudder-Akzent und traf 20 Minuten vor Beginn meiner ersten Vorstellung am Abaton-Kino ein. Wie sich einige Minuten später herausstellte, saß Ewan McGregor nicht weit weg noch in einem Café. Willkommen zu meiner voraussichtlich achtteiligen Berichterstattung vom Filmfest Hamburg 2016.
Tag 1
Dass in jedem Mensch ein Monster schlummert, ist eine These, so alt wie die Menschheit selbst. Paul Verhoevens (RoboCop) Film weiß diese jedoch als Nährboden für tiefergehende Gesellschaftsforschung zu nutzen. Am ehesten lässt sich sein Drama um das Opfer einer Vergewaltigung, so seltsam das auch klingen mag, mit dem diesjährigen Cannes-Lieblings Toni Erdmann vergleichen. Stilistisch scheinen beide Filme unaufwendig, scheinbar unambitioniert inszeniert zu sein, befreien ihre Geschichten dadurch jedoch von fiktionalisierendem Ballast, um ein unverzerrtes und realistisches Bild zu erlauben. Der Dramatik wird eine schockierende Authentizität eingeflößt, Gefühlsausbrüche in unangenehmer Apathie erstickt. Momente nachdem Michelle (großartig: Isabelle Huppert) in ihrem eigenen Haus vergewaltigt wurde, beseitigt sie mit kühler Miene die Spuren der brutalen Tat, als würde sie die Scherben ihrer zersplitterten Seele mit einer unglaublichen Selbstbeherrschung zusammensuchen. Michelle ist fortan nicht sichtbar gezeichnet von dem Vorfall, optisch ziert nur Veilchen ihr Gesicht, vor ihren Freunden erwähnt sie nichts und zur Polizei geht sie schon gar nicht.
Paul Verhoeven erzählt seine facettenreiche Geschichte mit einem solchen Selbstbewusstsein, dass Elle trotz leicht konstruierter Verknüpfungen und gewagten Thesen ein kohärentes, nuanciertes und durchgehend fesselndes Thrill-Drama ist. Die Prämisse weicht während der Handlung immer wieder für einige Zeit in den Hintergrund und entfaltet sich als rahmendes Sinnbild für die Figuren. Für die verlogene Gesellschaft findet Verhoeven erschreckende sowie satirische Bilder. Wo Maren Ade den Humor in Toni Erdmann als lichtspendende Instanz in der dunklen Traurigkeit beschrieb, ist die Lakonie reines Werkzeug zur Betäubung. Ein Werkzeug, das sich auch die Zuschauer des Films (unbewusst) anzueignen scheinen, um dem Schrecken zu entfliehen. Zumindest so lange, bis die Erinnerung wiederkehrt. 3,5/5
Emotionen, Untertitel und viele schnelle Worte bilden die ersten schwarzweißen überfordernden Momente von Shuchang Xies 70-Minüter Per Song. Meist ruht die Kamera statisch auf den Charakteren in ihren Alltagssituationen. Realität und Fiktion verschmelzen in dokumentarisch gefilmten episodischen Gesprächssituationen. Die Kamera scheint für die Figuren präsent, sie wird personalisiert, als sei der Zuschauer Teil der Nachtwanderungen und Clubgänge der Jugendlichen, die fragend durchs Leben wandern, ohne je eindeutige Antworten zu erhalten. Das ist in seiner biederen YouTube-Clip-Ästhetik und seinem teils schmerzhaft langsamen Tempo 35 Minuten lang einschläfernd, driftet danach in einer Kombination aus Handy-Video-Trackingshot und Radio-Musikeinsatz in hypnotische Sphären ab, bis er sich in einem kathartischen Dialog über den Stellenwert und die Bedeutung von Liebe ausklingt. 2,5/5
Die letzten Minuten von Tag 1 sind bereits verstrichen, während ich diese abschließenden Zeilen schreibe. Morgen stehen deutlich mehr Filme auf dem Programm, denn auch Tickets für die Abendvorstellungen sind bereits reserviert.