Einige Kollegen beklagen sich schon seit gestern über ihre bisher leider schwache Ausbeute auf dem Filmfest Hamburg 2016. Das große Meisterwerk bleibt zwar noch aus, mit Dark Night konnte ich jedoch schon einen Film sehen, der mich auch nach der Woche in Hamburg begleiten wird. Auch sonst kann ich mich trotz den mittelprächtigen Per Song und Diamant Noir nicht beklagen. Heute schaffte es zumindest ein weiterer wirklich sehenswerter Film auf meine Liste.
Tag 3
Eine halbe Stunde weniger Schlaf und der erste Film an meinem 3. Tag auf dem Filmfest Hamburg wäre länger gewesen, als ich geschlafen hätte. Wenn Lav Diaz für seine Verhältnisse kurze Filme dreht, sind auch diese noch um die vier Stunden lang. So auch The Woman Who Left. Trotz besonderer Lauflänge ist der neueste Film des philippinischen Regisseurs im Gegensatz zu seinen anderen Werken nicht besonders unkonventionell erzählt. Klar strukturiert baut er in seinen typisch langgehaltenen, statischen Schwarzweiß-Bildern die Rache-Agenda der Protagonistin Horacia (Charo Santos-Concio) auf. Diese war 30 Jahre lang wegen Mordes inhaftiert, bis neue Beweise ihre Unschuld belegen und sie aus dem Gefängnis, das eher wie ein menschenverachtendes Arbeitslager wirkt, freigelassen wird. Zudem findet sie heraus, wer der eigentliche Täter und damit Verantwortliche für ihre 30 Jahre hinter Gittern ist. Sie schwört, Rache an dem reichen Rodrigo Trinidad zu nehmen.
Horacias tragische Geschichte steht sinnbildlich für eine Unterdrückung durch die Oberschicht. Während Rodrigo sich in einem Haus verschanzt, berichten immer wieder Stimmen aus dem Radio von den Umständen, die das Land betreffen. Baufahrzeuge reißen ganze Siedlungen ein und von den Leidenden ertönt die Frage nach einem Gott, den sie so lange in den Schönen und Reichen sahen. Die nihilistische Bewegung muss sich neue Instanzen suchen, die sie nur in ihren eigenen Reihen finden kann. Gottesgestalten sind nicht die menschlichen Hüllen des Kapitalismus, von denen Güte nur im Austausch erfahren wird, sondern solche, die selbstlos geben. The Woman Who Left ist in knapp 230 Minuten nie übermäßig schwere Kost, nicht schmerzhaft zäh, aber die Differenz zwischen Inhalt und Form ist groß. 3/5
Eigentlich wollten Josh Kriegman und Elyse Steinberg dokumentieren, wie der aufmüpfige Politiker Anthony Weiner nach seinem verheerenden Twitter-Skandal 2011, wo er ein Unterwäsche-Bild von sich postete, als Bürgermeister-Kandidat in New York City sein Comeback feiert. Nach wiederholten Entschuldigungen und Versprechen für die Zukunft scheint er sich schon auf der Siegesstraße zu befinden, bei den Umfragen führt er. Die Leute lieben ihn, bis ein erneuter Sex-Skandal ihn von den Wolken schubst. Denn wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.
Man muss sich zwischendurch immer wieder selbst kopfschüttelnd vor Augen führen, dass nicht geskriptet ist, was passiert. Weiner könnte auch eine spielfilmlange Spezialfolge von "The Office" sein, Anthony Weiner ein Meister der Komik. Denn so tragisch der Fall auch sein mag, wie sehr seine Familie unter dem wiederholten Skandal leidet und Weiners persönliches Leben nach außen getragen wird, so unglaublich unterhaltsam ist es, dem absurden Worst-Case-Spektakel zu folgen. Einen informativen Einblick in das Wahlprogramm des Politikers bekommt man zwar nicht, dafür aber ein Gefühl für die ambivalente Persönlichkeit zwischen provokantem Großmaul, euphorisierenden Motor, Geschäftsmann, Familienvater und eben auch Lustmolch. Gerade befindet sich Anthony Weiner noch in einer hitzigen Fernsehdiskussion, reißerisch, provokant und lachend, im nächsten Augenblick sitzt er deprimiert und verlassen im einsamen Fernsehstudio. Mit cleveren Schnitten bringen die beiden Regisseur nicht nur Tempo und satirische Spitzen in ihre Dokumentation, sie unterstreichen vor allem die absurde Tragik eines Mannes, der sich vor tausenden Leuten für zwar nicht legitime aber doch private Angelegenheiten rechtfertigen muss. 3,5/5
Ein Mann inmitten von tosenden Wellen. Ein Mann allein auf einer einsamen Insel. Ein Mann mit Frau, dann mit Frau und Kind. Die rote Schildkröte ist ein niedlicher Film. Vielleicht liegt es daran, dass Regisseur Michael Dudok de Wit vorwiegend Animateur und kein Storyteller ist, dass sein erster Langfilm, co-produziert vom legendäreN Studio Ghibli, mit diesem undankbaren Adjektiv beschrieben werden muss. Visuell ist Die rote Schildkröte anspruchsvoll aber simpel, durchdacht aber einfach. Der einsame Mann mit den Knopfaugen streift wortlos wie der gesamte Film durch die einsame Insel, auf der er gestrandet ist. Die friedlichen Naturkulissen werden in wohlige Klänge getaucht, das gesamte Bild teilweise nach Umgebung oder Sinneszustand des Charakters eingefärbt. Eine zunächst deprimierende Survival-Geschichte vermischt sich mit verträumtem Surrealismus.
Ganz im Gegensatz zu dieser spirituellen Meditation steht die sich entwickelnde Familiengeschichte. Als der namenlose Mann eine riesige rote Schildkröte erschlägt, die ihm und seinem selbstgebauten Floß mehr als einmal den Weg über das Meer versperrte, verwandelt sich ihr lebloser Körper in eine wunderschöne Frau. Auch im weiteren Verlauf besinnt sich de Wit immer wieder zu seinen träumerischen Stärken und verbindet Ton und Bild in einem so wunderschönen wie generischen Unterwasser-Ballett. Was die erzählerischen Einfälle angeht, bedient sich Die rote Schildkröte bekannter Muster und drückt am Ende auf die obligatorische Tränendrüse. Zu spüren ist wenig, dafür ist das Erzählte zu beliebig. Wahrscheinlich hätten einige Zuschauer eher bei dem Tod einer der ulkigen Krabben geweint. Die sind nämlich niedlich. 3/5
Weiner stellt sich im bisherigen Ranking des Fimfests direkt zwischen die beiden anderen Highlights The Ornithologist und Dark Night. Tag 4 hat mit dem bereits viel gelobten Personal Shopper von Cannes-Gewinner Olivier Assayas (Die Wolken von Sils Maria) Potenzial, ein überschattendes Highlight bereitzuhalten.
Bisherige Ausgaben:
Tag 1 (Elle, Per Song)
Tag 2 (Diamant Noir, The Sociologist And The Bear Cub, The Ornithologist, Dark Night)