Amour, F/D/A 2012 • 125 Min • Regie & Drehbuch: Michael Haneke • Mit: Jean-Louis Trintignant, Emmanuelle Riva, Isabelle Huppert, Alexandre Tharaud, William Shimell, Ramón Agirre, Rita Blanco • Kamera: Darius Khondji • FSK: ab 12 Jahren • Verleih: X Verleih • Kinostart: 20.09.2012
„Liebe“ heißt der neue Film von Michael Haneke, dem Regisseur von solch fordernden Werken wie „Funny Games“ (1997), „Caché“ (2005) oder „Das weiße Band“ (2009). Und man sollte sich von dem einladenden Titel nicht täuschen lassen, denn auch „Liebe“ bietet seinem Publikum alles andere als seichte Romantik oder Frühlingsgefühle an. Dies ist ein Film, den man sich erarbeiten muss – kein Glamour, keine spektakulären Bilder, Spezialeffekte oder knackigen Newcomer-Stars. Nur ein Blick in die Wirklichkeit. Ein ehrlicher, ungeschönter, vielleicht niederschmetternder Blick, den so mancher Kinogänger möglicherweise gar nicht riskieren möchte, auch wenn er sich ausdrücklich lohnt. Bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes ist das eindringliche Drama mit dem Festivalhauptpreis, der Palme d’or, geehrt worden.
Haneke dokumentiert hier zwei Menschen an ihrem Lebensabend. Das Ehepaar Georges (Jean-Louis Trintignant) und Anne (Emmanuelle Riva) lebt in einer Pariser Altbauwohnung. Beide sind um die 80 Jahre alt und in der Vergangenheit als Musikprofessoren tätig gewesen. Noch bevor wir in ihren Alltag eindringen, werden wir zu Beginn des Films Zeugen, wie Polizisten eine Wohnungstür aufbrechen und Annes mit Blumen geschmückte Leiche auf einem Bett vorfinden. Der Ausgang der Geschichte steht damit bereits fest, doch wie kam es zu dieser Szene? Wir bewegen uns zurück, vielleicht einige Wochen: Das Paar besucht ein Konzert, kommt heim, scherzt ein wenig und geht zu Bett. Am nächsten Morgen frühstückt es gemeinsam. Ein Moment, wie er normaler nicht sein könnte. Doch dann erstarrt Anne plötzlich und befindet sich einige Zeit völlig regungslos in diesem Zustand. Georges hält das erst für einen schlechten Scherz seiner Frau und legt ihr dann doch besorgt ein nasses Handtuch aufs Gesicht. Doch nichts geschieht. In Panik geht er langsam aus der Küche, um Hilfe zu holen. Der von ihm geöffnete Wasserhahn läuft noch – bis er aus dem anderen Zimmer hört, wie ihn jemand abdreht. Anne. Als wäre nichts gewesen, sitzt sie wieder am Tisch. Erinnern kann sie sich an den Vorfall nicht. Georges kann sie zu einem Arztbesuch überreden; eine verengte Carotisarterie ist das Problem. Im Krankenhaus wird ein Eingriff vorgenommen – Routine. Doch die Operation läuft schief: Anne erleidet einen Schlaganfall und ist halbseitig gelähmt. Obwohl sich Georges aufopferungsvoll um sie kümmert, kann sie nicht mit ihrer Situation umgehen. Sie spürt, dass es von nun an für sie bergab geht und möchte sich und ihrem Mann die Qualen ersparen. Ins Krankenhaus geht sie nicht mehr. Als Georges eines Tages unerwartet früh von einer Beerdigung zurückkehrt, findet er Anne vor ihrem Rollstuhl liegend vor. Das Fenster steht weit offen. „Ich wünschte, ich wäre schneller gewesen“, ist ihr nur zu klarer Kommentar zu dem Bild. Ihre gemeinsame Tochter Eva (Isabelle Huppert) kommt zu Besuch. Der Zustand Annes verschlechtert sich rapide und Eva fleht ihren Vater verzweifelt an, doch etwas zu unternehmen. Doch Georges steht zu seinem Wort: Anne kommt nie wieder in ein Krankenhaus und auch in kein Pflegeheim …
Der Schlüssel zu „Liebe“ liegt in seinen zwei Hauptdarstellern. Egal, wie sorgfältig Regisseur Haneke seine Geschichte hier auch komponiert: Ohne die bemerkenswert authentische Darstellung von Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva könnte das Werk niemals diese Durchschlagskraft erreichen, mit der es in sein Publikum vordringt und es von innen an das Geschehen fesselt. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion wird aufgelöst, wenn wir diesen zwei Menschen an ihr Lebensende folgen und hautnah miterleben, wovor wir sonst gern die Augen verschließen: Dem unaufhaltsamen Prozess des Alterns und letztendlichen Sterbens. „Liebe“ stellt die erste Spielfilmarbeit von Trintignant, 81, seit „Janis et John“ von 2003 dar, jenem Jahr, in dem seine zweite Tochter, die Schauspielerin Marie Trintignant, von ihrem Freund im Alkoholrausch erschlagen wurde. Solch ein Ereignis geht an niemandem spurlos vorüber, es hinterlässt Narben, prägt. Die fassungslose Trauer ist in Hanekes Film spürbar, auch wenn das Drama hier ein anderes ist. Manchmal dringt ein Lächeln in das Gesicht von Georges hervor – aus einer Tiefe, die wir nur erahnen, aber nie wirklich ergründen werden. Das, was uns Trintignant mit dieser Rolle bietet, ist vollendetes Schauspiel, aber eben auch ein Stück seines eigenen Lebens. „Ich schätze Hanekes Filme sehr, deshalb war ich interessiert“, gibt der Darsteller in einem Interview mit der Wiener Zeitung an und begründet so die Rückkehr in das Medium, dem er so viele Jahre den Rücken zugekehrt hat. Für Haneke also dieses erneute Sammeln von Energie, dieser Aufstieg aus einem tiefen, persönlichen Loch und noch einmal vor die Kamera und in das Scheinwerferlicht. Ein stimmigeres Werk hätte er sich für diese womöglich letzte Arbeit nicht auswählen können.
Seine Filmpartnerin Emmanuelle Riva, 85, erleben wir zu Beginn der Geschichte als trotz des hohen Alters vitale Frau. Es folgt der stetige Abfall ihrer Anne, der in dem schrecklichen Anblick mündet, wie sie ans Bett gefesselt nur noch vor sich hinvegetiert. „Mal“ (französisch für schlecht) ist am Ende das einzige Wort, das sie im Automatismus hervorbringt. Man kennt dieses Bild, hat es vielleicht selbst schon bei Familienmitgliedern mit ansehen müssen. Haneke führt uns konzentriert an die Situation heran, zeigt uns mit Nachdruck, wie viel Leid doch ein Mensch in diesem Stadium still ertragen muss. Georges sieht sich nicht in der Lage, die Pflege seiner Frau allein zu bewerkstelligen und stellt eine junge Krankenschwester ein. Wir werden Zeugen, wie grob diese mit der hilflosen Anne umgeht – ohne ein Gespür dafür, dass es kein Objekt, sondern ein Mensch ist, den sie betreuen soll. Anne kann diesen Zustand nicht mehr ertragen, möchte nicht ihr eigenes Elend im vorgehaltenen Spiegel sehen oder durch eine Schnabeltasse Flüssigkeit verabreicht bekommen. Es muss ein Ende haben. Das „mal“ kommt aus ihrem Inneren, ein verzweifelter Hilfeschrei, der irgendwann zu ihrem Mann durchdringt.
Warum tut uns Michael Haneke das überhaupt an, dieses unangenehme Kino? Vielleicht weil er das einfach kann und weil momentan wohl kaum jemand darin so gut ist, Situationen zu beobachten und den Zuschauern glasklar nahe zu bringen. Der Regisseur bietet seinem Publikum bewusst nicht viele Schauwerte an, sondern präsentiert „Liebe“ als Kammerspiel, das nahezu vollständig in der Wohnung des Paares angesiedelt ist. Zwei alte Menschen, die sich mit ihrem Problem von der Außenwelt isolieren und diesen letzten Kampf zusammen meistern wollen. Was bedeutet Liebe hier überhaupt? Das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch vermittelt uns Haneke zumindest nicht. Die Liebe im Film bekommt ihren Ausdruck in der Selbstaufopferung von Georges und Anne: Er widmet ihr seine ganze Kraft, sie versucht mit allen Mitteln, ihren Mann von seiner erdrückenden Last zu befreien. „Liebe“ ist kein bemüht pessimistisches Werk, das uns vorführen möchte, dass am Ende jedes Leben lediglich in einem finsteren Abgrund endet. Selbst in den dunkelsten Stunden ist da noch etwas, das uns Hoffnung gibt. Die Hoffnung, dass wir diesen Weg zumindest nicht allein gehen müssen.
Haneke zeigt uns und seinen Protagonisten gar die Möglichkeit einer Flucht auf, wenn er die Aufmerksamkeit auf ein Gemälde an der Wand lenkt. Die Kamera verliert sich in der gemalten Landschaft, dringt tief in diese ein und führt uns so aus der Kargheit der Wohnung in die Welt da draußen. Die Kunst, auch in Form von Musik von einer CD, vermag es – wenn auch nur in Gedanken – Zeit und Raum zu versetzen. Kunst wie dieses meisterhafte Alterswerk, das aber keinesfalls altersschwach anmutet. Nur, dass uns dieses nicht etwa einen wunderbaren Ausblick, sondern einen bewusst kitschfreien, nüchternen Einblick gewährt. Die richtige Wahl für ein zwanzigjähriges, verliebtes Pärchen, das einen schönen Kinoabend genießen möchte, dürfte „Liebe“ wohl kaum sein. Aber das ist nun wahrlich kein Kritikpunkt, der gegen den Film spricht.
Die Aufnahmen stammen übrigens von Darius Khondji, der bereits eindrucksvolle Bilder für renommierte Regisseure wie Jean-Pierre Jeunet („Die Stadt der verlorenen Kinder“) oder David Fincher („Sieben“) gezaubert hat. Hier ist seine Kamerarbeit so gut, dass sie zunächst nahezu unbemerkt bleibt.
Trailer