Lincoln, USA 2012 • 149 Min • Regie: Steven Spielberg • Drehbuch: Tony Kushner • Musik: John Williams • Mit: Daniel Day-Lewis, Sally Field, David Strathairn, Joseph Gordon-Levitt, James Spader, Hal Holbrook, Tommy Lee Jones • Kamera: Janusz Kamiński • FSK: ab 12 Jahren • Deutsche Website • Kinostart: 24.01.2013
Inhalt
Als Lincoln 1864 seine zweite Amtsperiode als 16. Präsident antritt, steht die junge Nation durch den blutigen Bürgerkrieg vor der Zerreißprobe. Mit Mut und Entschlossenheit widmet sich der republikanische Politiker der fast unlösbaren Aufgabe, den Krieg zu beenden, Nord- und Südstaaten zu versöhnen und die Sklaverei abzuschaffen. In jenen wenigen Monaten vor seiner Ermordung am 15. April 1865 durch einen Attentäter wird Lincoln in einem unerhörten Kraftakt die entscheidenden Weichen für das Schicksal kommender Generationen stellen.
Kritik
Wer war Abraham Lincoln? Eine Frage, die viele Historiker seit Generationen bewegt und gleichzeitig keine eindeutige Antwort erlaubt. Im Kern geht es um die Frage: war Lincolns Bestreben um die Befreiung der Sklaven in den Vereinigten Staaten 1865 politisch motiviert, oder moralisch?
Da nicht viel darüber bekannt ist, was bei den Lincolns im Hinterstübchen erzählt wurde, bleibt nur die Möglichkeit, die Lücken mit Spekulationen aufzufüllen. Es wird wohl niemanden, der mit Steven Spielbergs Filmvita vertraut ist, allzu sehr überraschen, dass sich der Meisterregisseur für seine Filmbiografie gegen einen pragmatischen Lincoln und stattdessen für einen moralischen, empathischen Lincoln, der Recht von Unrecht und Gutes vom Bösen nach unseren modernen Vorstellungen unterscheidet, entschieden hat. Daran lässt Spielberg von Beginn an nicht den geringsten Zweifel: in der Eröffnungsszene unterhält sich Lincoln ganz unaufgeregt und verständnissvoll mit einem dunkelhäutigen Soldaten, der für Lincolns Union im Bürgerkrieg kämpft und sich beim US-Präsidenten über den im Vergleich zu den weißen Soldaten viel geringeren Sold beschwert. Historisch belegt ist diese Szene, genauso wie viele weitere in dem Film, natürlich nicht, aber sie bewegt sich in dem Interpretationsspielraum, den man Spielberg zugestehen darf. Ganze zwölf Jahre hat Spielberg für das Projekt seines Lebens in Recherche investiert, und das merkt man auch an jeder Stelle dieses Films: so anspruchsvoll, so detailverliebt war noch kein Film von Steven Spielberg. Nicht München, und auch nicht Schindlers Liste. Für dem Hobbycineasten mit Blockbuster-Einschlag ist dieser Film mit seinen schleppenden politischen Reden und spärlichen Schlachtfeldszenarien keine ganz so leichte Kost. Insbesondere dann nicht, wenn man keine historischen Grundkenntnisse mitbringt. Der Film lässt sich für seine sensiblen Momente viel Zeit und wählt ein eher ruhiges Tempo. Dieses wird nur durch impulsiv geführte Politikerdebatten unterbrochen, die die Aufmerksamkeit des Zuschauer stark beanspruchen. Aber wo Spielberg draufsteht, ist natürlich auch immer Spielberg drin: Ein paar Zugeständnisse an Hollywood sind unumgänglich, den amerikanischen Pathos aus Der Soldat James Ryan und den anrührenden Heroismus aus Schindlers Liste, übrigens die einzigen beiden Filme, für die Spielberg den Regie-Oscar gewann, halten auch in Lincoln Einzug. Mit dem Pathos hat der Altmeister aber wieder etwas übertrieben. Ob schwülstige Reden oder wehende Fahnen, der amerikanische Patriotismus bringt etwas Unbehagen über das cineastische Gemüt. Doch nicht Spielbergs Inszenierung, sondern vielmehr John Williams' unterschwelliger Filmmusik, die den Patriotismus besonders minutiös herausarbeitet, ist dieser Umstand zu verdanken.
In den beinahe epischen 150 Minuten Spielzeit bleibt natürlich auch viel Zeit für die Persönlichkeit von Lincoln. Und genau an dieser Stelle kommt das extraterrestrische Talent von Daniel Day-Lewis zum Tragen. Die Erwartungen waren immens: Der beste Schauspieler aller Zeiten in der Rolle eines der wichtigsten historischen Figuren aller Zeiten. Das schreit so laut nach Oscar, dass man es noch vom Atlantik bis hierher hallen hört. Daniel Day-Lewis spielt mal wieder seinen Stiefel runter. Und das ist ein sehr guter Stiefiel. Aber gemessen an den hohen Erwartungen, und das ist kein Vorwurf an den Extraterrestirschen, fiel seine Rolle im Vergleich zu seinen zurückliegenden in There Will Be Blood oder Gangs of New York etwas spartanischer aus. Lincoln ist anspruchsvoll, aber es ist nicht seine anspruchsvollste Rolle, Spielberg lässt ihn nur selten von der Leine, etwa bei einer kurzen Wutrede, als Lincoln mit seiner Gattin Mary Todd, die von Sally Field übrigens hervorragend verkörpert wird, in einen heftigen Streit gerät. Das ist überhaupt nicht als Vorwurf an die Adressen von Day-Lewis und Spielberg zu verstehen, die Darstellung von Lincoln ist nüchtern und akkurat und genau richtig. Vielmehr ist das als Wink an die Academy-Mitglieder zu verstehen, die bestimmt schon das Feld hinter Daniel Day-Lewis' Namen angekreuzt und den Oscar-Kuvert losgeschickt haben, ehe Lincoln überhaupt in die Kinos einzog. Der von Day-Lewis verkörperte Lincoln ist eher ein ruhiger, kluger und sehr charmanter Zeitgenosse mit scharfen Gesichtszügen (Kompliment an die Maske!). Besonders gut gelungen sind die Szenen, in denen Lincoln in einer schwierigen politischen Situation eine seiner berüchtigten Anekdoten aus dem Hut zaubert, die oftmals Lösungen für ein aktuelles politisches Dilemma anbieten. Vortrefflich und amüsant sind die Reaktionen von Lincolns Mitmenschen, und im weiteren Verlauf bei entsprechender Konditionierung auch die des Kinozuschauers selbst, wenn der Märchenonkel ausholt und man sich nur noch denkt: "Jetzt erzählt der schon wieder eine Geschichte". Die komplizierte Beziehung Lincolns zu seiner Frau, die an starken Depressionen leidet, und die kalte, fast gleichgültige Beziehung zu seinem ältesten Sohn Robert, ebenfalls sehr gut dargestellt von Jungstar Joseph Gordon-Levitt, werden sehr gut herausgearbeitet und harmonieren perfekt mit dem politischen Drama, das sich außerhalb der Familientristesse abspielt. Die Probleme gehen Hand in Hand, da Lincoln als Arbeitstier nach Ansicht seiner Gattin keine Zeit für die Familie aufbringt und sie ihn für den Tod eines ihrer gemeinsamen Söhne verantwortlich macht. Spielberg macht aus Lincoln zum Glück keinen Heiligen und verpasst ihm durchaus einige Grautöne. Aus politischem Kalkül besticht und belügt er Abgeordnete, um etwas Größeres, etwas Besseres zu erreichen: die Abschaffung der Sklaverei. Der Zweck heiligt eben die Mittel.
Bei all dem Fokus auf Daniel Day-Lewis, dem Extraterrestrischen, dürfen wir einen nicht übergehen: Tommy Lee Jones! Wenn es einen internen Wettkampf der besten Performance unter den Darstellern in Lincoln gegeben hätte – Tommy Lee Jones hätte ihn gewonnen! Die ambivalente Rolle des radikalen Verfechters der Sklavenbefreiung, Thaddeus Stevens, ist ihm wie auf den Leib geschneidert. Mit Witz und Charme schmiert Stevens demokratische Politiker in seinem Hinterzimmer, mit knallharter Rhetorik und eindeutiger Gestik entblößt er im Plenarsaal seine politischen Gegner und löst Jubelstürme unter seinen Befürwortern aus. Als Zuschauer möchte man gerne mitjubeln, das kraftvolle Spiel von Tommy Lee Jones ist so einprägsam und präzise, das es einen Oscar für die beste Nebenrolle mehr als nur verdient. Nach 1994 für Auf der Flucht seine zweite Chance auf den Goldjungen in dieser Kategorie.
Steven Spielberg gelingt es in der Tat, das oft als zu zäh und ohne Erzähfluß verrufene Biopic spannend zu erzählen. Er umgeht die klassichen Biopic-Symptome und fängt gar nicht erst an, die Stationen von Lincolns Leben, von dessen Geburt über seine College-Zeit bis hin zu seinen ersten politschen Gehversuchen, abzuklappern. Spielberg fängt da an, wo es spannend wird: Mitten in der heißen Phase des Bürgerkriegs zwischen der Union und den Konföderierten sowie der Verhandlung um die Abschaffung der Sklaverei. Sie bilden gleichzeitig den Rahmen für die letzten Monate im Leben von Abe Lincoln. Spielbergs Lincoln ist historisch akkurat genug, um ihn einer Schulklasse vorzuführen, nichtsdestoweniger behält sich das Mastermind aus dramaturgischen Gründen vor, eigene Interpretationen einzustreuen. Die äußerst spannende Auszählung der Stimmen um den 13. Verfassungszusatz über die Sklavenbefreiung, der eine nicht weniger spannende Jagd um die Gunst der stimmberechtigten Abgeordneten vorausgeht, wurde stark überdramatisiert. Das stärkste dramaturgische Element des Films, Lincolns Dilemma, sich entweder für den Frieden oder für die Abschaffung der Sklaverei zu entscheiden, entspringt zu Teilen ebenfalls der Fantasie von Spielberg: Um den 13. Zusatzartikel im Parlament durchzudrücken, vertröstet der Film-Lincoln eine konföderierte Delagation, die mit einem Friedensangebot aus dem Süden herbeieilt. Er trügt die Abgeordneten und lässt sie darüber im Unklaren, dass der Frieden naht, denn nur die Aussicht eines fortwährenden, blutigen Bürgerkrieges hätte die Abgeordneten zu diesem unliebsamen Schritt, die Abschaffung der Sklaverei, bewogen. Spielberg legt eine moralische Motivation Lincolns nahe, den die Sklaverei persönlich anwidert. Historische Quellen schließen pragmatische Motivationen aber nicht aus, denn der Zusatzartikel bewirkte einen politischen und wirtschaftlichen Schaden für die aufsässigen Südstaaten, was ganz im Sinne von Lincoln gewesen sein muss.
Fazit
Steven Spielberg beweist, dass man einen komplexen Stoff spannend aufbereiten kann, ohne dabei die Geschichte allzu sehr zu hintergehen. Er erzählt kein klassisches, aber ein dramaturgisch sehr gut konstruiertes Biopic, das die wichtigste Zeitspanne Lincolns politischen Wirkens einschließlich seines Todes behandelt. Eine wundervolle, manchmal zu pathetische Tragödie mit einem extraterrestrischen Cast.
Trailer
https://youtu.be/ABPKfo8NjHk