Marvel’s Daredevil, USA 2018 • Laufzeit: 13 Folgen à 48-55 Min • Regie: Lukas Ettlin, Alex Garcia Lopez, Julian Holmes, Toa Fraser, u. a. • Mit: Charlie Cox, Vincent D’Onofrio, Wilson Bethel, Denorah Ann Woll, Elden Henson, Jay Ali, Joanne Whalley • Anbieter: Netflix • Veröffentlichungstermin: 19.10.2018
Diese Rezension basiert auf den ersten sechs Folgen der 3. "Daredevil"-Staffel und enthält leichte Spoiler!
Man sagt häufig, ein Held bzw. eine Geschichte seien nur so gut, wie ihr Antagonist. Dass es nicht pauschal zutrifft, merkt man zum Glück am Marvel Cinematic Universe, das bereits zahlreiche wirklich gute Filme hervorgebracht hat, in denen interessante und komplexe Bösewichte dennoch rar gesät waren. Es funktioniert also auch ohne, solange coole Helden und eine gelungene Inszenierung den Mangel eines mehrdimensionalen Gegners kompensieren. Ergibt sich jedoch die glückliche Fügung, dass ein überzeugender Held auf einen interessanten Schurken trifft, hat man den Jackpot geknackt. Noch mehr als die Filme betrifft das Marvels Netflix-Serien. Es ist eben deutlich schwieriger, die Geschichte 13 Folgen lang alleine vom Protagonisten vorantreiben zu lassen, wenn der Bösewicht lahm ist. So gut wie Jessica Jones, Daredevil oder Luke Cage auch angelegt sind (lassen wir mal Iron Fist unerwähnt bleiben), erst im Zusammenspiel mit einem würdigen Widersacher blühen sie wirklich zur Hochform auf. Es ist kein Zufall, dass die bislang besten Serienstaffeln aus dem Marvel/Netflix-Serienuniversum – die ersten Seasons von "Daredevil" und "Jessica Jones" – zugleich auch diejenigen mit den besten Gegnern sind. Die zweite "Daredevil"-Staffel war immer noch sehr solide, funktionierte aber am besten in der ersten Hälfte, als der Titelheld es noch mit dem Punisher zu tun hatte. Wie bei Vincent D’Onofrios Wilson Fisk, waren es der Kontrast und die Ähnlichkeiten zwischen den beiden, die als Motor der Geschichte dienten. Als dann die Hands Ninjas übernommen haben, war die Staffel weiterhin unterhaltsam, verlor jedoch den besonderen Reiz. D’Onofrios kurzer Auftritt in der zweiten Season machte erst recht deutlich, wie sehr er der Serie fehlte.
Seine Vollzeit-Rückkehr als Fisk ist daher das Beste, was der dritten "Daredevil"-Staffel passieren konnte. Er ist nicht der einzige Grund, weshalb die ersten sechs zur Vorabsichtung bereitgestellten Folgen einen sehr gelungenen, vor Potenzial triefenden Auftakt zur neuen Staffel bilden, doch er trägt erheblich dazu bei.
Doch unsere Geschichte beginnt zunächst mit einem kaputten Helden. Obwohl beim Kampf unter Midland Circle ein ganzes Gebäude auf ihn herabgestürzt ist, hat Matt Murdock alias Daredevil (Charlie Cox) überlebt, wenn auch schwer lädiert. Nachdem er aus einem Abwasserrohr gespült wurde, schafft er es gerade noch aus letzter Kraft, nach Pater Lantom (Peter McRobbie) zu rufen, der ihn ins Waisenhaus bringt, in dem Matt aufgewachsen ist. Dort wird er von den Nonnen, vor allem von der resoluten Schwester Maggie (Joanne Wahlley), über Wochen gesund gepflegt. Doch auch nachdem Matt endlich über den Berg ist, ist er ein gebrochener Mann. Die Verletzungen beeinträchtigen seine sonst außerordentlich geschärften Geruchs- und Gehörsinne, womit er zunächst das verliert, was ihn als Superhelden ausmacht. Doch Matts Wunden sind nicht nur äußerlich. Völlig desillusioniert und verbittert, hat er seinen Glauben verloren, die eine Sache, die ihm Kraft verliehen und auf den rechten Pfad geleitet hat. Ohne Glauben an Gott oder Gerechtigkeit in der Welt, ist er bereit, Matt Murdock, den Anwalt, hinter sich zu lassen, und sein Schicksal als Daredevil anzunehmen, auch wenn es ihn umbringt.
Die Zuschauer haben Matt Murdock schon häufig leiden sehen. Als Katholik sind Selbstzweifel und innere Zerrissenheit ein inhärenter Teil seiner Identität und keiner der Defenders wurde in Kämpfen so häufig und so heftig verletzt wie er. Ohne spezielle Superkräfte oder eine militärische Ausbildung ist er der menschlichste der Marvel-Helden bei Netflix. Zu Beginn der dritten Staffel ist Matt körperlich wie psychisch jedoch an einem neuen Tiefpunkt angelangt. Es ist wirklich erfrischend zu sehen, dass Matts Nahtoderfahrung nicht spurlos an ihm vorbeigegangen ist. Zu häufig erleiden Helden schwere Verletzungen, nur um sich eine Folge später quickfidel ins Kampfgetümmel zu stürzen. Natürlich kann eine Serie wie "Daredevil" ihren Helden nicht eine ganze Staffel lang auskurieren lassen, doch er schlüpft auch nicht direkt zurück in sein Daredevil-Kostüm und vermöbelt wieder Kriminelle. Nicht dass er keinen Drang dazu verspüren würde, doch bei seinem ersten Einsatz stößt er schnell an seine neuen Grenzen.
Hauptdarsteller Charlie Cox spielt sich als Matt die Seele aus dem Leib. Gerade körperlich ist die Performance beachtenswert. In jedem Schritt und jeder Bewegung merkt man ihm die Schmerzen und den Verlust der Supersinne, die ihn zuvor ausgemacht haben, an. Bei einer gewissen Szene mit einer Nasendusche musste ich sogar kurz zusammenzucken. Etwas schwieriger gestaltet sich die neue pessimistisch-fatalistische Einstellung der Figur. Cox verkauft alles, was das Drehbuch von ihm verlangt, sehr glaubwürdig, doch wenn man etwas Abstand nimmt, wirkt der ultradüstere Wandel etwas zu drastisch und überzogen. Ist es der erneute Verlust von Elektra, der ihn so verbittert gemacht hat, oder die Tatsache, dass er wieder fast ums Leben gekommen ist? Das wird nie zufriedenstellend erklärt. Foggy (Elden Henson) sinniert nach seiner ersten, nicht gerade angenehmen Begegnung mit Matt, dass ein Teil von ihm unter Midland Circle gestorben sei. Das hat man als Zuschauer zu akzeptieren. Zum Glück macht es Charlie Cox einem nicht schwer und die Serie scheut sich auch nicht davor, Matt durchaus unsympathisch zu zeigen, denn wie er nach seiner Rückkehr mit seinen Freunden umgeht, ist trotz vermutlich bester Absichten eher fragwürdig. Doch es funktioniert innerhalb der Geschichte. Ein Held muss nicht immer sympathisch sein, solange er interessant ist. Danny Rand/Iron Fist ist ein Beispiel dafür, wenn man weder noch ist. Ohne seinen Glauben scheint Matt nur einen schlechten Tag davon entfernt zu sein, zum Punisher zu werden. Es fällt ihm sichtlich immer schwerer, seinen dunklen Impulsen nachzugeben.
Diese Impulse hat Wilson Fisk am Ende der ersten Staffel in seiner großartigen "Guter Samariter"-Rede bereits akzeptiert und zu Beginn der dritten Staffel verbüßt er weiterhin seine Haftstrafe. Auch mit diesem Schicksal scheint er sich abgefunden zu haben. Als er jedoch davon unterrichtet wird, dass das FBI auch gegen seine Verlobte Vanessa wegen Mittäterschaft vorzugehen plant, erklärt er sich bereit, zu kooperieren und seine Kontakte in der kriminellen Unterwelt ans Messer zu liefern. Im Gegenzug verlangt er komplette Immunität für Vanessa. Eingefädelt wird der Deal durch den ehrgeizigen, jedoch in schweren finanziellen Nöten steckenden und um die Beförderung ringenden FBI-Agenten Nadeem (Jay Ali). Fisk hält sein Wort, doch sein Ruf als Spitzel macht ihn natürlich auch zur Zielscheibe anderer Insassen. Damit seine unerschöpfliche Quelle nicht versiegt, erwirkt Nadeem gegen großen Widerstand Fisks Transfer vom Gefängnis in eine luxuriöse Hotel-Suite, was natürlich zum öffentlichen Aufschrei führt und sowohl Matt als auch Karen (Deborah Ann Woll) und Foggy ordentlich durchrüttelt. Alle drei setzen sich unabhängig voneinander das Ziel, Fisk mit allen Mitteln zurück ins Gefängnis zu bringen. Doch der Meister der Manipulation zieht schon längst die Strippen in einem großen Plan, der nicht nur Vanessa beschützen, sondern auch Matt Murdock vernichten soll. Nach und nach wickelt er seine Mitmenschen durch beispiellose Kooperation und höflich-verständnisvollen Umgang um den Finger.
Es ist wichtig, Ziele im Leben zu haben. So ist es ausgerechnet die Rückkehr von Wilson Fisk in die Öffentlichkeit, die Matt wieder Antrieb verleiht. Das bringt ihn zumindest sporadisch mit seinen alten Freunden Foggy und Karen zusammen, wobei gerade letztere nie die Hoffnung verloren hat, ihn wiederzusehen, sich die Reunion jedoch ganz anders vorgestellt hat.
Die Dynamik zwischen Matt und Fisk zeigt wieder Potenzial, wobei sich diese in den ersten Folgen größtenteils in Matts Kopf abspielt, was wirklich einfallsreich umgesetzt ist. Das Schicksal hat die beiden zusammengebracht und ähnlich wie Batman und den Joker verbunden. Das Zusammenspiel ist etwas simpler geworden als in der ersten Staffel, in der beide mit dem Vorhaben begonnen haben, ihr Viertel zu einem besseren Ort zu machen und jeweils den Anderen als Störenfried sahen, bis Fisk realisierte, wer er wirklich ist und was er will. Nun geht ihr Zweikampf in die nächste Runde und diesmal ist das Ziel klar. Fisk will Rache, Matt möchte seine Mitmenschen (und New York) vor Fisk ein für allemal beschützen. Für Fisk gibt es keine Grenzen, doch wie weit ist Matt bereit zu gehen?
Es ist nicht das Was, das ihr Schachspiel ausmacht, sondern das Wie. Beide spielen mit Handicap. Matt ist kein Anwalt mehr, als Daredevil nicht gerade in Topform, und kommt an den unter FBI-Schutz stehenden Fisk auch nicht heran. Letzterer hat zwar immer noch enorme Ressourcen, ist jedoch in seiner Hotelsuite gefangen. An dieser Stelle kommt eine neue Figur ins Spiel, der FBI-Agent Benjamin "Dex" Pointdexter, gespielt von Wilson Bethel. Comicfans wissen natürlich, dass sich dahinter Daredevils zweitbekanntester Gegner (nach dem Kingpin), Bullseye, verbirgt, und bereits bei seinem allerersten Auftritt werden uns seine Treffsicherheit und zugleich seine Skrupellosigkeit im Einsatz vorgeführt. Noch versucht er, gut und rechtschaffen zu sein, doch die Zuschauer erfahren schnell, welche dunklen Abgründe sich bei Dex verbergen. Um aus ihm einen interessanten zweiten Gegenspieler zu machen, widmet die Staffel seinen Hintergründen sogar eine ganze Folge, in der Matt kaum vorkommt. Es ist ein mutiger Zug für eine Serie mit dem Titel "Daredevil", eine Episode fast ohne Daredevil zu haben, doch er zahlt sich aus. Ohne zu viel zu verraten, erleben wir unter anderem eine ehemalige Therapeutin von Dex, die ihm erklärt, dass sein moralischer Kompass besser funktioniert, wenn er ein Vorbild bzw. eine Leitfigur im Leben hat. Doch was passiert, wenn Fisk diese Rolle einnimmt? Wilson Bethel verkörpert überzeugend einen Mann, der gegen einen unertrinnbaren Strudel ankämpft, bis auch er sich seinem Schicksal ergibt. Die ersten sechs Folgen zeigen Bullseyes Geburt, doch es bleibt noch großes Potenzial für den Charakter in der zweiten Staffelhälfte.
Die gesamte Besetzung ist in Topform. Elden Henson ist als Foggy sympathisch und vermutlich die beste Identifikationsfigur der Serie im Moment, Karen hat mit eigenen Dämonen zu kämpfen, die denen von Matt vielleicht gar nicht unähnlich sind, und Joanne Whalley ist als strenge, aber liebevolle Nonne ein starker Gegenpart zum pessimistischen Matt. Doch es sind Vincent D’Onofrios Szenen als Fisk, in denen man alles andere vergisst. Obwohl er die Gesamtheit der ersten sechs Folgen lediglich an zwei Orten verbringt (erst Knast, dann Hotel), und dabei wenig Anderes tut, als zu reden, hat er dabei größere Präsenz als die meisten Marvel-Bösewichte der letzten Jahre. Jedes seiner sorgfältig ausgewählten und mit Bedacht vorgetragenen Worte trägt eine unglaubliche Wucht. Trotz seiner enormen Selbstbeherrschung merkt man das Aggressionspotenzial, das in Fisk lodert. Die Kamera liebt D’Onofrio. Aus der Anzahl der Aufnahmen, in denen man seinen Stiernacken oder die Rundung seines massigen kahlen Kopfes sieht, könnte man glatt ein Trinkspiel machen. D’Onofrios Performance ist sehr auf die Körperlichkeit und Gestik angelegt. Fisk hat nicht mehr ganz den Wow-Effekt, wie in der ersten Staffel, in der man ihn langsam kennenlernte, doch es tut der Faszination mit ihm keinen Abbruch. Selten erlebt man in Serien einen Charakter, der mit jedem Wort oder jeder Bewegung so fesselt. Auch seine Liebe zu Vanessa spielt weiterhin eine große Rolle und macht viel von dem Charakter aus. Obwohl Ayelet Zurer in den ersten sechs Folgen nicht zu sehen ist, spürt man durch Fisk ihre Präsenz.
Man kann die Besprechung nicht abschließen, ohne auf das andere Highlight der Serie einzugehen: ihre Action. Mit der ohne Schnitte inszenierten Flur-Kampfszene in der ersten Staffel schrieb "Daredevil" Seriengeschichte und hatte ein eigenes Markenzeichen. Die zweite Staffel setzte mit der deutlich längeren und ebenfalls in einer langen Plansequenz realisierten Treppenhaus-Kampfszene noch einen drauf und etablierte "Daredevil" als eine der besten Actionserien überhaupt. In dieser Hinsicht enttäuscht auch die neue Staffel nicht. Ja, auch hier gibt es wieder eine phänomenal inszenierte Kampfszene ohne Schnitte, die mit ihren beiden Vorgängern jedes bisschen mithalten kann. Was sie noch bemerkenswerter macht, ist, dass Matt Murdock in ihr, im Gegensatz zu den beiden davor, keine Maske trägt, sodass Charlie Cox augenscheinlich an einem Großteil der Szene selbst beteiligt war. Hut ab! Genau so großartig ist jedoch auch das mitreißende erste Duell zwischen Daredevil und Bullseye, das die unterschiedlichen Stärken der beiden sehr gut zur Geltung bringt – einer ist besser im Nahkampf, der andere unschlagbar auf Entfernung. Davon gibt es in der zweiten Staffelhälfte hoffentlich noch mehr zu sehen.
Ein besonderes Schmankerl für die Kenner der Comicvorlagen ist, wie sehr sich die Staffel von Frank Millers "Born Again"-Storyline inspirieren ließ. Es ist natürlich keine 1:1-Adaption und ganz so düster wie in "Born Again" wird es hier nicht – also keine Sorge, Karen wird (vorerst) zu keiner heroinsüchtigen Pornodarstellerin. Doch es sind mehr als nur Einzelheiten, die der neue Showrunner Erik Oleson in seine Geschichte übernommen hat. Comicleser werden sehr viele allgemeine, aber auch spezifische Plotelemente und Details wiedererkennen.
Außerdem gelingt es der dritten Staffel zumindest in den ersten sechs Folgen, den größten Minuspunkt der meisten Marvel/Netflix-Serien zu vermeiden – das zähe Tempo. Es gibt hier und da etwas überschüssiges Fett, wie beispielsweise Foggys eher nichtssagende Szenen mit seiner Familie, doch im Großen und Ganzen bringt jede Episode das Geschehen gut voran und die Staffel tritt nie auf der Stelle, wie beispielsweise "The Punisher" oder zuletzt die zweite "Iron Fist"-Season. Natürlich darf man nicht vergessen, dass sich all das auf die erste Staffelhälfte bezieht. Sowohl die erste "Luke Cage"-Staffel als auch "The Defenders" sind in ihrer zweiten Hälfte regelrecht implodiert. Man kann nur hoffen, dass "Daredevil" ihr Pulver nicht jetzt schon verschossen hat. So wie es steht, ist es ein äußerst vielversprechender Start, der mich die Fortführung kaum abwarten lässt.