Midsommar (2019) Kritik

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Midsommar, USA 2019 • 147 Min • Regie & Drehbuch: Ari Aster • Mit: Florence Pugh, Jack Reynor, Vilhelm Blomgren, Will Poulter, William Jackson Harper, Ellora Torchia, Archie Madekwe • Kamera: Pawel Pogorzelski • Musik: Bobby Krlic • FSK: ab 16 Jahren • Verleih: Weltkino • Kinostart: 26.09.2019 • Deutsche Website

Es sind kalte Bilder und kalte Emotionen, die den Zuschauern zu Beginn von Ari Asters zweitem Spielfilm „Midsommar“ begegnen. Aufnahmen von einsamen und verschneiten Landschaften gehen in die Wohnung einer jungen Frau über, die verzweifelt auf ihr Smartphone starrt. Der Regisseur des gefeierten Horrorschockers „Hereditary – Das Vermächtnis“ nimmt sich auch in seiner neuen Arbeit Zeit, das Drama-Fundament seiner Geschichte bis zur Schmerzgrenze auszuloten, bevor er seine Protagonisten schließlich in den ungewissen Schrecken stürzt. So ist „Midsommar“ zuallererst die schonungslose Dokumentation einer dysfunktionalen Beziehung, die sich im Verlauf vor den Hintergrund eines bizarren Folk-Horror-Szenarios verlagert und dort ihren morbiden Höhepunkt findet. Aster zeigt sich erneut als aufmerksamer Beobachter verborgener Gefühle, die sich wie ein bösartiges Geschwür durch die Seele fressen und langsam Einfluss auf den Charakter nehmen. Der Albtraum ist hier menschengemacht.

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Bei der Frau vom Beginn handelt es sich um die Studentin Dani (Florence Pugh), deren Schwester bei ihrem Selbstmord auch die Eltern mit in den Tod gerissen hat. Erschüttert und von ihren Emotionen überwältigt, sucht sie Halt bei ihrem distanzierten Freund Christian (Jack Reynor), der sich aber lieber mit seinen oberflächlichen Kumpels umgibt als Trost zu spenden. Nur durch Zufall erfährt sie, dass Christian mit diesen eine Reise nach Schweden plant, um der Gemeinde seines Freundes Pelle (Vilhelm Blomgren) bei ihrem Sommerfest beizuwohnen. Schuldbewusst und in dem festen Glauben, dass sie nicht mitkommen wird, wird Dani kurzerhand auch eingeladen – und sagt zur Entgeisterung der Clique, der noch Josh (William Jackson Harper) und Mark (Will Poulter) angehören, zu. Vor Ort angekommen, tut sich für die Amerikaner eine ganz neue Welt auf: Eine eigentümliche Ansammlung von Menschen in Gewändern begrüßt sie herzlich in einem entlegenen und von seltsamen Gebäuden umstellten Idyll. Ein ganz besonderes Ereignis steht hier bevor – und während sich die Gäste im Drogenrausch mit der Umgebung vertraut machen, stellen sie zunehmend fest, dass in dieser Gesellschaft äußerst ungewöhnliche Rituale praktiziert werden …

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Stilistisch entfernt sich Ari Aster von der klaustrophobischen Finsternis des Vorgängers und fängt „Midsommer“ in einer sonnendurchfluteten, scheinbar endlosen Weite ein, die eher Agoraphobie erzeugt. Ein Rückzug in die Privatsphäre scheint vor den Augen der omnipräsenten Gemeindemitglieder unmöglich – nicht gerade die optimale Situation im fragilen Zustand des Trauerns. Als klares Vorbild dient dem Regisseur der Urvater der Folk-Horrorfilme, Robin Hardys „The Wicker Man“, in dem sich Paranoia und Unbehagen auch schleichend durch wachsende Skurrilität und nicht durch physische Konfrontation ausbreiten. Hinter all der Freundlichkeit versteckt sich nicht etwa etwas abgründig Böses, sondern eine andere Sichtweise der Welt. Und eine andere Interpretation von Recht und Unrecht. Trotz der geschilderten Perversionen und haarsträubenden Riten gelingt es Aster, dieser Gesellschaft auch etwas verboten Anziehendes zu verleihen. Nicht umsonst steht die Wärme und feierliche Stimmung im krassen Gegensatz zu den unterkühlten Eindrücken des Einstiegs.

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Deutlich verstörender als die kurzen aber effektiven Splatter-Einschübe brennen sich die Szenen im Gedächtnis fest, die anfangs die völlige Gleichgültigkeit gegenüber der verletzten Dani von Seiten ihrer vermeintlichen Freunde und ihres Partners zeigen. Während nach außen Verständnis geheuchelt wird, lässt die Clique im engen Kreis kein gutes Haar an ihr. Eine Ausnahme ist Pelle, der nicht umsonst das Bindeglied zu der mysteriösen Sekte bildet. Jeder von ihnen erhofft sich von der Reise etwas anderes: Josh will seine Abschlussarbeit über das Sommerfest schreiben, Mark freut sich auf Party und ungezwungenen Geschlechtsverkehr und Christian wagt mit seinen wahren Absichten erst später die Konfrontation. Doch lediglich die von der fantastischen Newcomerin Florence Pugh („Lady Macbeth“) eindringlich verkörperte Dani befindet sich auf einer existenziellen Suche. Innerlich weiss sie, dass es sich bei Christian und Co. um verlogene Gefährten handelt – ihr fehlt schlicht die Kraft, sich aus dem Gefüge zu lösen und einen neuen Weg zu beschreiten.

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Mit „Midsommar“ gelingt Ari Aster das Kunststück, seinem Volltreffer-Debüt direkt ein ebenbürtiges Zweitwerk nachfolgen zu lassen und seinen Status als absolutes Ausnahmetalent im Horrorgenre nachdrücklich zu festigen. Wie die Altmeister der Zunft nutzt auch er die erzählerischen Freiheiten der Fantastik, um seine im Kern universelle Suche nach Halt und Zugehörigkeit bis ins Groteske zu übersteigern. Auch wenn der Leidensweg Danis tief unter die Haut geht, sitzt Aster hier stets spürbar der Schalk im Nacken: So ernst ihm der emotionale Leitfaden der Geschichte auch ist, so bewusst ist er sich ebenso der Absurdität des Szenarios. Die Reaktionen der Besucher auf die merkwürdigen Gepflogenheiten der Gastgeber sorgen beispielsweise an diversen Stellen für eine willkommene Prise makabrer Komik. Inszenatorisch in den Fußstapfen von Kubrick und Polanski, bricht in „Midsommar“ vereinzelt der Wahnsinn des „Texas Chainsaw Massacre“ und die Obszönität von Ken Russells „Die Teufel“ durch, weshalb das Werk von der US-Behörde MPAA mit dem gefürchteten NC-17 (kein Einlass unter 18 Jahren) abgestraft wurde. Für den regulären Kinostart steht also zunächst lediglich eine bereits alles andere als zahme Schnittfassung bereit, die dann bei späteren Auswertungen um den vollständigen Director’s Cut ergänzt werden soll.

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Bewusst provokant und in hypnotischen Bildern eingefangen, ist „Midsommar“ nach Jordan Peeles „Wir“ bereits das zweite überragende Genrewerk des Jahres 2019 und ein emotional stark involvierender Leinwand-Trip. Ein robustes Nervenkostüm sollte man hier allerdings auf jeden Fall mitbringen.


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