Sean Baker ist ein Name, bei dessen Erwähnung die meisten durchschnittlichen Kinogänger vermutlich die Schultern zucken. Bei eingefleischten Cineasten und Fans anspruchsvollen Arthouse-Kinos gelten Bakers Filme schon lange als Geheimtipps. So wie er selbst außerhalb des US-amerikanischen Studiosystems arbeitet, so handeln auch seine meist mit winzigen Budgets und ohne namhafte Darsteller im naturalistischen Stil gedrehten Filme von Menschen am Rande unserer Gesellschaft. Die Hauptfiguren von Bakers Filmen wie Take Out, Starlet, Tangerine L.A. und Red Rocket sind Pornodarstellerinnen und -darsteller, (Transgender-)Prostituierte, illegale Einwanderer, Herumtreiber und gesellschaftliche Aussteiger.
Trotz überwiegend positiver Kritiken ist Bakers Filmen die Mainstream-Anerkennung lange verwehrt geblieben. Am weitesten brachte es noch The Florida Project, der immerhin eine Oscarnominierung für Willem Dafoes Performance ergatterte. Mit seinem neusten und laut bisherigen Kritikerstimmen besten Film dürfte der Außenseiter des US-Independent-Kinos endlich ins Rampenlicht rücken. Nachdem seine Komödie Red Rocket 2021 als erster seiner Filme im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes lief, hat sein zweiter Cannes-Beitrag Anora dieses Jahr gleich den Hauptpreis, die begehrte Goldene Palme, gewonnen. Es ist der erste US-amerikanische Cannes-Sieger seit Terrence Malicks The Tree of Life 2011 und der bestrezensierte englischsprachige Goldene-Palme-Gewinner seit Lügen und Geheimnisse vor fast 30 Jahren.
Anora bleibt den Themen von Bakers bisherigen Filmen. Mikey Madison, die Ihr vielleicht als einen der beiden Ghostface-Killer aus dem fünften Scream oder als eine Charles-Manson-Anhängerin aus Quentin Tarantinos Once Upon a Time in Hollywood kennt, spielt die titelgebende Stripperin und Gelegenheits-Prostituierte aus New York, in die sich der junge russische Oligarchen-Sohn Vanya (Mark Eidelstein) verliebt. Ihre stürmische Romanze führt zu einer spontanen Heirat, damit Vanya als Ehemann einer US-Amerikanerin nicht zurück nach Russland muss. Dem Liebesmärchen droht jedoch ein Aus, als Vanyas erzürnte Eltern anreisen, um die Ehe ihres Sohnes zu annullieren. Es fängt also in etwa wie Julia Roberts' Romcom-Klassiker Pretty Woman an, dürfte aber ein deutlich authentischerer Blick auf die Situation sein. Wie immer bei seinen Filmen, fungierte Baker nicht nur als Anoras Regisseur, sondern auch als Autor, Produzent und Editor.
US-Verleih NEON, der zielsicher die US-amerikanischen Vertriebsrechte an den letzten vier Gewinnern der Goldenen Palme (jeweils bevor sie ausgezeichnet wurden) erworben hatte, lag auch diesmal richtig und schnappte sich früh Anora. Jetzt hat NEON den ersten Red-Band-Trailer zum Film veröffentlicht, der am 18. Oktober in die US-amerikanischen Kinos kommen und mit Sicherheit eine große Rolle im nächsten Oscar-Rennen spielen wird.
In Deutschland wird Universal Pictures Anora am 31.10.2024 in die Kinos bringen. Drei der letzten vier Cannes-Sieger (Parasite, Triangle of Sadness und Anatomie eines Falls) erhielten Film- und Regie-Nominierungen bei den Oscars, Parasite hat beide sogar gewonnen. Die Chancen stehen daher sehr gut, dass Anora zu einem der großen Titel bei den nächsten Oscars werden wird.