Seit 25 Jahren verfolge ich schon das Oscar-Rennen. Natürlich ist mir bewusst, dass die Filme und Performances, die bei den Oscars gewinnen, nicht zwingend die besten ihres Jahres sind. Das liegt immer im Auge des Betrachters und einige meiner Lieblingsfilme aus dem letzten Jahr wie Challengers, Kneecap und Civil War wurden gar nicht nominiert. Nichtsdestotrotz üben die Oscars auf mich als Filmfan einen starken Reiz aus und machen mich gelegentlich auf Filme aufmerksam, die ich sonst vielleicht verpasst hätte.
Kommenden Sonntag werden die Oscars in Los Angeles zum 97. Mal verliehen und wie jedes Jahr, versuche ich wieder möglichst viele Oscarkandidaten vor der Verleihung im Kino zu sehen. Diese Woche stehen für mich noch die oscarnominierte Doku Soundtrack to a Coup d’Etat, Deutschlands Oscar-Beitrag Die Saat des heiligen Feigenbaums und das Bob-Dylan-Biopic Like a Complete Unknown an. Wenn ich das brasilianische Drama Für immer hier, das eine überraschende Nominierung als bester Film ergatterte, am 8. März in einer Preview sehe, werde ich neun der diesjährigen zehn "Bester Film"-Anwärter im Kino gesehen haben.
Bei einem Film wird mir diese Gelegenheit jedoch voraussichtlich verwehrt bleiben, denn wie Amerikanische Fiktion letztes Jahr, wird Amazon MGM Studios den Oscarkandidaten Nickel Boys hierzulande gar nicht in die Kinos bringen, sondern am 26. Februar direkt bei Prime in den Stream schicken. Auch Amerikanische Fiktion, der einen Oscar für sein Drehbuch gewonnen hat, wurde unmittelbar vor der Verleihung bei Prime veröffentlicht. Auf diese Weise können Cineasten den Film immerhin noch vor den Oscars sehen, allerdings finde ich es sehr bedauerlich, ihn nicht auf der Kinoleinwand erleben zu können. Im Gegensatz zu Netflix gibt Amazon seinen Oscarfilmen häufig nicht einmal einen kleinen Alibi-Kinostart. Nickel Boys wird damit neben CODA und Amerikanische Fiktion erst der dritte "Bester Film"-Nominee seit 2007 sein, den ich nicht im Kino gesehen haben werde.
Sehenswert dürfte RaMell Ross' Regiedebüt auf jeden Fall sein. Die Verfilmung des gleichnamigen Pulitzer-Preis-gekrönten Romans von Colson Whitehead handelt von zwei Jungen, die sich in einer Besserungsanstalt für schwer erziehbare Jugendliche in Florida der Sechziger Jahre kennenlernen, in der die Jungen regelmäßig schikaniert und bis zum Tode misshandelt werden. Die Handlung ist von schrecklichen wahren Ereignissen an der erst 2011 geschlossenen Florida School for Boys inspiriert. Visuell besticht Nickel Boys durch die Darstellung der Ereignisse aus der Ich-Perspektive mehrerer Charaktere.
Bei den Oscars wurde Nickel Boys als bester Film und für das beste adaptierte Drehbuch nominiert. Nennenswerte Siegeschancen hat er in beiden Kategorien nicht, dennoch ist es ein Triumph für den kleinen Film, der während des Oscar-Rennens unter dem Radar geflogen ist. Unten könnt Ihr den englischsprachigen Trailer zu Nickel Boys sehen:
Quelle: Amazon Prime Video