Nach einem langen und enorm aufregenden Oscar-Rennen mit vielen Höhen und Tiefen für etliche Filme, sind wir nur noch Stunden davon entfernt zu erfahren, wen die Academy of Motion Picture Arts and Sciences dieses Jahr als Beste des letzten Jahres prämiert hat. Vor Tagen wurden die Stimmen bereits von PriceWaterhouse Coopers ausgezählt (seit 1934 übernimmt Price Waterhouse jährlich diese Aufgabe), die Sieger stehen schon fest, doch nur eine Handvoll Eingeweihter kennt diese.
Wer unsere Berichterstattung über das diesjährige Oscar-Rennen aufmerksam verfolgt hat, weiß, dass Argo nach einem holprigen Start als unbestrittener Favorit für den großen Preis ins Rennen geht. Doch ganz gleich, ob beim Öffnen des letzten Umschlags "And the Oscar goes to…Argo" vorgelesen wird oder nicht, der Ausgang wird ein schwer zu verstehendes Mysterium der Academy bleiben. Denn sowohl ein Sieg von Argo, mittlerweile aber auch eine Niederlage würden sich nur schwer in die 84-jährige Geschichte des wohl bekanntesten Filmpreises der Welt fügen. Dabei geht es gar nicht um die wahrgenommene Qualität des Films (diese bleibt ja schließlich immer subjektiv), sondern um all das, was auf dem Weg zu den Oscars in den letzten Monaten passiert ist.
Als der Pulitzer-Preisträger und der wohl angesehenste Filmkritiker aller Zeiten, Roger Ebert, während des Toronto International Film Festivals schon am 10.09. verkündet hat, dass Argo als Bester Film von der Academy ausgezeichnet werden würde, erschien dies als ein etwas verfrühter, doch durchaus nicht unberechtigter Tipp. Schließlich sollte der Film auf eine sehr altmodische Art gut sein, die Academy Filme von Regisseuren, die vorher Schauspieler waren (siehe Braveheat, Erbarmungslos, Der mit dem Wolf tanzt und Million Dollar Baby) häufig bevorzugen und die politische Geschichte besitzt auch durchaus Relevanz. Als der Film dann auch noch zu einem Überraschungshit an den Kinokassen wurde, war er zweifelsohne der frühe Favorit. Doch der Film startete im Oktober und erreichte scheinbar früh seinen Zenit. Einen Monat später schon stahl ihm Lincoln das Scheinwerferlicht. Ein Film über den beliebtesten US-Präsidenten aller Zeiten, gespielt von einem der besten Mimen seiner Generation unter der Regie von Steven Spielberg, dem wohl bekanntesten lebenden Regisseur…die Oscars sind aus diesem Stoff gemacht. Als der Film auch noch mit glühenden Rezensionen empfangen wurde und sich nicht bloß als eine dröge Geschichtsstunde erwies, war vielen klar – Lincoln wird’s sein! Als der Film dann auch noch zu einem Riesenhit an den Kinokassen avancierte und auch in diesem Punkt Argo völlig die Show stahl, war es nur zu deutlich, dass nur ein politisch angehauchter Film Platz in diesem Rennen hat. Es konnte nur helfen, dass Spielberg in seiner langen Karriere nur für Schindlers Liste den Preis als Bester Film gewann (für Der Soldat James Ryan gab es den Regie-Oscar) und dass Daniel Day-Lewis prompt zum Favoriten für "Bester Hauptdarsteller" wurde.
Doch auch wenn damit das Rennen von vielen als gelaufen deklariert wurde, war es doch erst der Anfang einer Achterbahnfahrt. Silver Linings wurde immerhin von Harvey Weinstein unterstützt, der bereits das Rennen für Filme wie Shakespeare in Love und The King’s Speech erfolgreich gekippt hat und der beim Toronto International Film Festival den begehrten Publikumspreis gewann (wie Slumdog Millionär und The King’s Speech vor ihm). Als im Dezember dann Zero Dark Thirty die drei große Kritikerpreise gewann (von den Bostoner Filmkritikern, den New Yorker Filmkritikern und der National Board of Review) war das Chaos perfekt. Lincoln blieb weiterhin Favorit, doch seine Stellung war nicht mehr so sicher wie zuvor. Silver Linings und Zero Dark Thirty blieben ihm im Nacken, über Argo dachte man zugleich immer weniger nach. Bei den Kitikerpreisen spielte er zunächst keine Rolle, während Lincoln sowohl bei den Golden Globes als auch bei der Broadcast Film Critics Association und den BAFTAs die Nominierungen angeführt hat. Natürlich ergatterte Argo alle wichigsten Industrienominierungen (SAG, PGA, DGA, WGA), doch die meisten, die das Rennen verfolgten, betrachteten Argo als einen dieser typischen Kandidaten, denen viele Nominierungen garantiert sind, die aber zugleich nichts gewinnen werden (wie vor zwei Jahren schon True Grit).
Doch auch das war noch lange nicht das Ende des ereignissreichen Oscar-Rennens. Als am 10. Januar die Oscarnominierungen verkündet wurden, gab es dabei für mich die größten Überrachungen, seit ich das Oscar-Rennen intensiv mitverfolge (1999). Wie schon in meinem Artikel über die Gewinner und Verlierer erwähnt, waren die Nominierungen ein heftiger Schlag gegen Argo und Zero Dark Thirty, deren Regisseure nicht nominiert wurden und denen damit auch der große Preis mit relativer Sicherheit verwehrt bleiben würde (oder nicht?!). Zugleich bewis Lincoln mit seinen 12 Nominierungen die erwartete Stärke, doch die größte Überraschung war Silver Linings mit acht Noms, darunter ganze vier für seine Darsteller. Es war klar: dies würde ein knappes Rennen zwischen Lincoln (immer noch Favorit) und der Oscarkampagne der Weinsteins für Silver Linings (Geheimtipp!) sein. Argo hatte scheinbar keine Chance. Seit 1989 (Miss Daisy und ihr Chauffeur) hat kein Film mehr als "Bester Film" gewonnen, ohne für die Regie nominiert gewesen zu sein. Insgesamt kam dies in der Oscargeschichte nur dreimal vor, wobei die ersten beiden Male in den ersten zehn Jahren der Oscars geschahen und somit in einer "anderen Ära". Somit blieb Miss Daisy und ihr Chauffeur der einzige Präzedenzfall, wobei auch dies unter günstigeren Bedingungen geschah (keine sonderlich starke Konkurrenz und Olivers Stone, dessen Geboren am 4. Juli der wichtigste Gegner war, hat kurz zuvor für Platoon bereits abgeräumt). Insbesondere da Argos Regie das (zu Recht) am häufigsten gelobte Merkmal des Films war, konnte man sich schwer vorstellen, dass der Film ohne eine Regie-Nom im Rennen bleiben könnte.
Als dann die Golden Globes Argo als Bester Film und Beste Regie ausgezeichnet haben, schenkte man dem nicht sonderlich viel Beachtung. Schließlich haben seit 2004 die Oscars und die Golden Globes nur ein einziges Mal in der Drama-Kategorie den gleichen Sieger gehabt. Auch nach den Siegen bei der Broadcast Film Critics Association (ebenfalls Regie und Film) hat man Argo als "Kritikerliebling" abgetan – schließlich halfen diese Triumphe auf The Social Network nicht vor zwei Jahren.
Diese Wahrnehmung änderte sich schlagartig als Argo an einem Wochenende sowohl den Hauptpreis der Producers Guild of America und den Preis für das Beste Ensemble (welcher häufig mit Bester Film korreliert) bei der Screen Actors Guild, also der Gewerkschaft der Schauspieler, einheimste. Argo erhob sich wie ein Phönix aus der Asche und alle Oscar-Experten konnten nur fassungslos staunen. Lincoln, bis dahin als Favorit gehandelt, hat keinen einzigen Preis als Bester Film gewonnen – bei keinem Kritikerverband oder innerhalb der Industrie. Der Rest ist Geschichte. Argo gewann den Preis des Verbandes der Regisseure (DGA), den Preis der Drehbuchautoren (WGA), der Cutter (ACE) und schließlich auch den "britischen Oscar", den BAFTA für den Film und die Regie. Mit anderen Worten – Argo räumte ausnahmslos jeden einzelnen relevanten Filmpreis im Oscar-Rennen ab. Das gelang zuletzt Slumdog Millionär, zuvor American Beauty (allerdings gewann auch dieser nicht den Preis der Cutter).
Bei Miss Daisy und ihr Chauffeur war alles anders verlaufen. Als Komödie hat man bei dem Film sowieso nicht mit einem Regie-Oscar gerechnet und der Film war nicht einmal von der DGA nominiert. Bei den BAFTAs gewann er ebenfalls nicht. Eine Niederlage wäre also für Miss Daisy nicht sonderlich überraschend gewesen. In Argos Fall jedoch, wäre das ein größerer Schock als die Überraschung von 2005 – als L.A. Crash plötzlich gegen Brokeback Mountain gewann. Doch immerhin hat L.A. Crash im Vorfeld den Ensemble-Preis der Screen Actors Guild gewonnen. Zugleich ist es schon beinahe paradox, dass Argo ein so großer Favorit ist, ohne jedoch eien Nominierung erhalten zu haben. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass in der Kategorie "Beste Regie" nur etwa 370 Mitglieder der Academy (Regiesseure) abstimmen, während bei den Siegern die gesamte Academy ein Votum hat. Wäre Affleck nominiert gewesen, so wäre dies gar keine Diskussion jetzt und auch er wäre Favorit für beste Regie. Doch er ist es nicht und egal wie es heute Nacht ausgehen wird, Argos Oscar-Saison ist und bleibt ein Mysterium in den Oscar-Annalen und ein Reminder, dass jede erwiesene Statistik auch ihre Ausnahmen hat.
Zuletzt dann noch meine persönlichen Tipps (außer die Kurzfilme), we ich den Ausgang der diesjährigen Oscars sehe (hier könnt ihr noch einmal die Nominierungen sehen):
BESTER FILM
Auch wenn man Lincoln und Silver Linings wohl nicht völlig ausschließen kann (Spielbergs Macht auf der einen, Harvey Weinsteins Kampagne auf der anderen Seite), wäre alles andere als Argo eine Riesenüberraschung. Immerhin als Produzent wird Affleck heute auf die Bühne gehen dürfen.
Argo
BESTE REGIE
Eine absolut offene Kategorie, da Affleck so gut wie jeden wichtigen Vorläufer-Preis gewann (und der Rest ging an Bigelow!), er aber nicht nominiert ist. Es ist ein offenes Rennen, bei dem jeder, mit der Ausnahme des Newcomers Benh Zeitlin, eine valide Chance hat. Ich glaube nicht, dass Silver Linings eine Art Film ist, die zwar als Bester Film verliert, aber für die Regie gewinnt, also glaube ich nicht an David O. Russells Sieg. Ich glaube auch nicht, dass Ang Lee seinen zweiten Regie-Oscar bekommt, ohne zumindest einmal für einen Film gewonnen zu haben. Steven Spielberg wäre ein sehr sicherer Tipp (und er wird es wahrscheinlich sein), doch ich riskiere es in dieser Kategorie mit Michael Haneke, dessen Film Liebe sich scheinbar enormer Beliebtheit bei der Academy erfreut hat.
Michael Haneke (Liebe)
BESTER HAUPTDARSTELLER
Daniel Day-Lewis hat seinen dritten Oscar so sicher in der Tasche, wie man es nur haben kann. Lediglich wenn Silver Linings plötzlich in allen Kategorien abräumt, könnte Bradley Cooper überraschen – doch es wird nicht passieren.
Daniel Day-Lewis (Lincoln)
BESTE HAUPTDARSTELLERIN
Es war lange ein knappes Rennen zwischen Jessica Chastain und Jennifer Lawrence, doch Zero Dark Thirty verlor an Hype und Silver Linings gewann welchen hinzu. Lawrence hat auch den wichtigen Preis der Screen Actors Guild gewonnen. Sollte aber eine Überraschung passieren, so wird es Emmanuelle Riva für Liebe sein, die durch ihr Alter und die Rolle sicherlich viele Sympathie-Stimmen erhalten wird. Kürzlich gewann sie auch den BAFTA als Beste Hauptdarstellerin. Dennoch glaube ich hier an Harvey Weinsteins Einfluss.
Jennifer Lawrence (Silver Linings)
BESTER NEBENDARSTELLER
Tommy Lee Jones schien lange absoluter Favorit zu sein, doch Christoph Waltz gewann den Golden Globe und den BAFTA, Jones immerhin den Preis der SAG. Alle Nominierten in dieser Kategorie haben bereits gewonnen, doch bei Jones ist es am längsten her und es ist auch eine "relevante" Rolle. Waltz wäre Favorit, wenn er nicht vor drei Jahren erst (für eine ähnliche Rolle) gewonnen hätte.
Tommy Lee Jones (Lincoln)
BESTE NEBENDARSTELLERIN
Keine Diskussion. Mit einer einzigen beeindruckenden Szene gewann Anne Hathaway für sich mehr oder weniger den Hauptpreis.
Anne Hathaway (Les Misérables)
BESTES ORIGINALDREHBUCH
Hier wird es spannend. Kann Mark Boal wieder gewinnen, für Zero Dark Thirty? Lange Zeit war er Favorit und gewann auch den Preis der WGA, doch seine Konkurrenten Django Unchained und Liebe waren dort nicht für eine Nom zulässig. An Django glaube ich nicht (obwohl das Drehbuch schon bei den Golden Globes gewann), doch zwischen Liebe und Zero Dark Thirty kann man sich schwer entscheiden. Trostpreis für den Bigelow-Film?
Mark Boal (Zero Dark Thirty)
BESTES ADAPTIERTES DREHBUCH
Sehr starke Auftstellung. Lincoln, Silver Linings und Argo haben beide enorm starke Drehbücher, die bereits diverse Preise gewannen (Silver Linings bei den BAFTAs, Argo bei der WGA, Lincoln bei den New Yorker Filmkritikern). Doch Argo ist stärker denn je und Chris Terrio wird sich hier durchsetzen.
Chris Terrio (Argo)
BESTER FREMDSPRACHIGER FILM
Keine Frage, es wird Liebe sein, der in vior weiteren Kategorien, einschließlich Bester Film und Beste Regie nominiert ist.
Liebe (Österreich)
BESTER ANIMATIONSFILM
Disney/Pixar oder doch nur Disney? Die Erwartungen an Pixar sind höher als an andere, deshalb wird Merida wohl auf der Strecke bleiben und Ralph reicht’s sich durchsetzen.
Ralph reicht’s
BESTER DOKUMENTARFILM
Einer hat bislang alle relevanten Preise (PGA, WGA, DGA) abgeräumt.
Searching for Sugar Man
BESTER SCHNITT
Ich denke Argo wird nur eine einzige weitere Kategorie gewinnen und das wird diese sein. Schnitt korreliert häufig mit Bester Film, bei Argo wird sich das Muster nicht ändern.
Argo
BESTE KAMERA
Der Verband der Kameraleute hat Roger Deakins (Skyfall) zum dritten Mal ausgezeichnet. Bei den Oscars ist es seine 10. Nominierung ohne einen einzigen Sieg. Auch wenn Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger ebenfalls stark in dieser Kategorie ist, wird Deakins' unvergessliche Arbeit endlich belohnt werden.
Skyfall
BESTE AUSSTATTUNG
Les Misérables und Anna Karenina werden sich hier ein hartes Rennen liefern, kein anderer Film sollte eine reele Chance haben. Das Musical wird sich vielleicht durchsetzen, einfach weil es von mehr Wählern gesehen wurde.
Les Misérables
BESTE KOSTÜME
Wieder sind es Les Misérables und Anna Karenina, die gegeneinander antreten, wobei ein posthum verliehener Preis an Eiko Ishioka (Spieglein, Spieglein) ebenfalls eine Option ist.
Anna Karenina
BESTE FILMMUSIK
Alexandre Desplat ist lange überfällig, doch seine Musik in Argo ist zu unauffällig. bei Skyfall wird sich wohl jeder auf das Lied von Adele konzentrieren. Ich glaube dieser Preis wird an die New-Age-Musik von Life of Pi gehen.
Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger
BESTES FILMLIED
Let the sky fall, when it crumbles…
Skyfall
BESTE VISUELLE EFFEKTE
Filme, die hier nominiert sind, aber auch als Bester Film im Rennen sind, haben immer einen Vorteil.
Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger
BESTER TON
Da hier nicht nur die Experten dieses Bereichs, sondern alle Academy-Mitglieder abstimmen, wird der Preis wahrscheinlich an den lautesten nominierten Film verliehen…
Skyfall
BESTER TONSCHNITT
Ich denke Life of Pi wird noch eine technischen Preis gewinnen und eine der beiden Tonkategorien bietet sich an. Skyfall könnte aber locker beide gewinnen.
Life of Pi- Schiffbruch mit Tiger
BESTES MAKEUP
Les Misérables und Der Hobbit haben beide gute Chancen, doch ich gebe dem Prestige-Film den Vorzug.
Les Misérables