Pearl, USA 2022 • 102 Min • Regie: Ti West • Drehbuch: Ti West, Mia Goth • Mit: Mia Goth, David Corenswet, Tandi Wright, Emma Jenkins-Purro, Matthew Sunderland, Alistair Sewell • Kamera: Eliot Rockett • Musik: Tyler Bates, Tim Williams • FSK: ab 18 Jahren • Verleih: Universal Pictures • Kinostart: 01.06.2023 • Deutsche Website
In seinem großartigen Retro-Slasher „X“ präsentierte uns Regisseur und Autor Ti West letztes Jahr eine der ungewöhnlichsten Schurkinnen der Genre-Geschichte: Eine alte Frau, die es auf eine Filmcrew abgesehen hat, welche auf ihrem Grundstück einen Porno drehen wollte. Das direkt im Anschluss abgedrehte Prequel „Pearl“ widmet sich nun der Vorgeschichte der gleichnamigen und erneut von Mia Goth verkörperten Antagonistin.
Origin-Storys sind ja oft so eine Sache. In vielen Fällen bekommt man als Zuschauer dann doch nur einen lauwarmen Aufguss von dem geboten, was man über die betreffende Figur eh längt wusste. Nur eben nochmal aufgeblasen auf Spielfilmlänge. In „X“ erlebten wir Pearl als sich innerlich noch immer nach sexueller Befriedigung sehnende Greisin, für die ihr Körper so etwas wie eine langsam zerfallende Gefängniszelle darstellt. Die ihr gegenüberstehende (und passenderweise ebenfalls von Goth gespielte) Protagonistin Maxine stellte all das dar, was sie sich stets gewünscht hat. Daraus resultierten im Verlauf der Handlung Verzweiflung, Neid, Verbitterung und sich schließlich in einem Blutbad ergießender Hass. Wann und durch welches Ereignis die Frau zu einer derart erbarmungslosen Killerin mutiert ist, erfahren wir im vorherigen Film nicht. Allerdings sehen wir in einer Szene, dass dies offensichtlich nicht ihre erste Raserei gewesen ist.
„Pearl“ entführt uns aus den späten Siebzigern zurück in das Jahr 1918. Äquivalent zum Anfang von „X“ blickt die Kamera wieder aus einer Scheune auf das Haus der Titelfigur. Im Gegensatz zum geschichtlichen Sequel sind die Aufnahmen von Eliot Rockett diesmal allerdings weit geöffnet und die Grindhouse-Körnigkeit weicht einer poppig-bunten Technicolor-Ästhetik. Schon lange war auf der Leinwand kein Himmel mehr so blau oder ein Kleid bzw. der Lebenssaft so knallig rot. Dazu versetzen uns die märchenhaft-idyllischen Klänge von Tyler Bates und Tim Williams in das Innenleben Pearls bevor wir diese überhaupt zu Gesicht bekommen.
Die verträumte junge Frau lebt zusammen mit ihrer strengen Mutter Ruth (Tandi Wright) und ihrem querschnittsgelähmten Vater (Matthew Sunderland) in dem abgelegenen texanischen Farmhaus und wartet auf die Rückkehr ihres Ehemanns Howard (Alistair Sewell), der im Ersten Weltkrieg kämpft während überall die Influenza-Pandemie wütet. Auch wenn die Mutter ihren Ambitionen stets harsch eine Absage erteilt, möchte Pearl eigentlich nicht ihr Leben in der Einöde verbringen und strebt heimlich eine Karriere als Tänzerin an. Ihr Publikum sind zunächst nur die Stalltiere, die bei schnatternder Kritik allerdings grausam dahingemeuchelt werden. Pearl ist ganz von ihrem Talent überzeugt und lässt sich in diesem Punkt auch nicht belehren. Als sie bei einem Trip in die Stadt einen charmanten Filmvorführer (David Corenswet) kennenlernt, der sie in ihren Zielen ermutigt, und ihre Schwägerin Mitsy (Emma Jenkins-Purro) von einem Vorspiel bei einer Tanzgruppe berichtet, fasst sie schließlich den Entschluss, ein neues, selbstbestimmtes Leben zu beginnen …
Auch wenn „Pearl“, den Ti West diesmal zusammen mit seiner Hauptdarstellerin verfasst hat, in Sachen Gewalt seinem Vorgänger in nichts nachsteht (das sadistische Spiel mit dem hilflosen Vater ist übrigens weit schlimmer als jede Splatterszene), verlässt er dessen Slasher-Struktur und wendet sich eher einem psychologischen Horror im Stil von Roman Polanskis „Ekel“ oder Rob Reiners „Misery“ zu. „Pearl“ ist ein bewusst überschaubares Stück Southern-Gothic-Kino, in dessen Zentrum allein die exzentrische Frau an der Grenze zum völligen Wahnsinn steht. West und Goth legen die Figur sehr überzeugend als bereits von Beginn psychisch gestörten Charakter an, der seinen unkontrollierbaren Zorn zunächst an harmlosen Tieren auslässt. Es ist die Diskrepanz zwischen Pearls farbenfroher Innenwelt – die auf der Leinwand stets ihre Entsprechung findet – und der tristen Wirklichkeit, die sie aufgrund der äußeren Umstände nicht überwinden kann und sie schließlich die letzte Grenze überschreitend zu Mistgabel, Axt und anderen Mordinstrumenten greifen lässt.
Wenn man über „Pearl“ spricht, muss an oberster Stelle die absolut herausragende Performance von Mia Goth (in „Infinity Pool“ ebenfalls bald in unseren Kinos zu sehen) genannt werden. Horror war ja leider nie ein Genre, auf das die Academy besonders gut zu sprechen gewesen ist, doch ihre fulminante Darstellung der zugleich selbstbewussten wie auch gequälten Psychopathin hätte Goth gerechterweise eine Nominierung als „Beste Hauptdarstellerin“ in einem zugegeben unkonventionellen Werk einbringen müssen.
Während Interviews wirkt die gebürtige Britin vor der Kamera häufig etwas schüchtern oder reserviert, doch in Rollen wie nun „Pearl“ kann die neben ihrem „X“-Co-Star Jenna Ortega („Scream VI“) oft als neue Genre-Queen gehandelte 29-Jährige jede einzelne Szene in beeindruckender Weise dominieren. Ob sie nun in einem Tagtraum mit einer Vogelscheuche im Feld tanzt (der Film besitzt visuell und inhaltlich viele Referenzen zum Klassiker „Der Zauberer von Oz“ von 1939), bei ihrem Casting in ihre eigene kleine Welt versinkt, im Monolog mit ihrer Schwägerin minutenlang eine schmerzhafte Beichte direkt in die Kamera ablegt oder während des Anspanns so lange ein regungsloses Grinsen absolviert bis die Tränen kommen – Goth ist hier in jeder Situation eine schauspielerische Urgewalt.
Zwischen den Geschehnissen von „Pearl“ und „X“ liegen etliche Dekaden und nach Sichtung dieses Films wird sehr deutlich, welche gesellschaftlichen Umstände die Figur damals doch auf ihren Howard haben warten und an seiner Seite bleiben lassen. Die beiden Werke zeigen im Vergleich riesige historische Unterschiede auf, die sich über die Generationen entwickelt haben. Die nicht nur körperliche Freiheit der Siebziger wäre in diesem noch von Härte und Zwängen bestimmten Zeitalter nahezu undenkbar gewesen. Eine Szene, in der der namenlose Filmvorführer Pearl heimlich den ersten kurzen US-Sexstreifen „A Free Ride“ zeigt, ist einerseits ein wunderbarer filmgeschichtlicher Moment – der natürlich ebenso einen Bogen zu „X“ spannt -, wie auch ein Bild dafür, dass heute ganz gewöhnliche Dinge früher noch echte Verwunderung oder gar Skandale auslösen konnten. West und Goth präsentieren die Antagonistin zwar angemessen als grausame Täterin, doch porträtieren sie sie auch als zerbrochene Romantikerin und finden ihr pechschwarzes Herz schließlich unter all dem Blut und Gore.
Nicht nur darstellerisch, auch erzählerisch und inszenatorisch ist Ti Wests intensiver wie intimer „Pearl“ eine echte Perle unter den aktuellen Horrorproduktionen. Das mit einer wunderschönen Farbpalette gemalte Prequel ist weit mehr als eine Ergänzung zu „X“ und kann als qualitativ mindestens ebenbürtiges Werk losgelöst für sich stehen.