Stoker, USA/GB 2013 • 98 Min • Regie: Chan-wook Park • Drehbuch: Wentworth Miller • Mit: Mia Wasikowska, Nicole Kidman, Matthew Goode, Jacki Weaver, Dermot Mulroney • Kamera: Chung-hoon Chung • Musik: Clint Mansell • FSK: ab 16 Jahren • Verleih: 20th Century Fox • Kinostart: 09.05.2013 • Website
„Stoker“, das US-Debüt von Chan-wook Park („Oldboy“), beweist, dass inszenatorischer Stil bereits die halbe Miete sein kann. Das, was wir sehen, trägt ganz unverkennbar die Handschrift des visionären Südkoreaners, während das Drehbuch von „Prison Break“-Star Wentworth Miller der Filmwelt im Kern nicht sonderlich viel neues hinzuzufügen hat. Ich habe die Vorlage nicht gelesen, doch sollte in dieser nicht explizit vermerkt sein, wie die Szenen mit- und ineinander montiert werden müssen, so gebührt dem Regisseur und seiner Crew zweifellos die größte Anerkennung für dieses kleine audiovisuelle Kunstwerk. In anderen Händen hätte aus der charmanten wie offensichtlichen Hitchcock-Hommage ebenso gut ein austauschbarer Mysteryschinken ohne eigene Duftmarke werden können. Doch Park verbeißt sich in den sinistren Figuren und dem verträumten Setting und kreiert daraus seinen individuellen Coming of Age-Stoff. Während sich viele internationale Regisseure für ihren Eintritt in die Traumfabrik glattbügeln und zurechtbiegen lassen, widersteht er der Versuchung des schnellen Geldes für ein halbherziges Cash In-Projekt.
An der Oberfläche mag „Stoker“ wie eine reichlich pervertierte Interpretation von „Im Schatten des Zweifels“ (1943) anmuten, doch die intensiv mit der sinnlichen Wahrnehmung spielende Umsetzung ruft da schon fast Hélène Cattets und Bruno Forzanis eigenwillige Giallo-Verbeugung „Amer“ von 2009 ins Gedächtnis. Sex findet etwa in einer vermeintlich harmlosen Klavierübung oder in der Rekapitulation eines brutalen Mordes statt. Ohnehin wird die fleischliche Verführung oft untrennbar mit dem Töten verbunden. Das bewusste Statement eines Ausländers zu der moralisch fragwürdigen US-Filmpolitik? Blutlachen sind in Ordnung, solange darin niemand hüllenlos badet – also warum nicht gleich den gesamten Geschlechtsakt in eine Sprache übersetzen, an der sich scheinbar niemand stört? Manchmal müsse man etwas böses tun, um sich so vor etwas schlimmeren zu schützen, heisst es auch in einer Szene.
Im Mittelpunkt steht hier India Stoker (Mia Wasikowska), die an ihrem achtzehnten Geburtstag ihren Vater Richard (Dermot Mulroney) bei einem schrecklichen Autounfall verloren hat – am Ende des Films wird sie noch etwas ganz anderes verlieren. In ihr tristes Leben und das ihrer Mutter Evelyn (Nicole Kidman) tritt ihr zuvor unbekannter Onkel Charlie (Matthew Goode), Richards Bruder. Ähnlich wie im bereits genannten „Im Schatten des Zweifels“ verfügt die Protagonistin auch hier über ein nahezu übersinnliches Gespür für die Dinge in ihrem Umfeld, und auch der charismatische, gleichnamige Antagonist verkörpert von Beginn an das Unheil, das sich über die Familie legt. Anders als im Hitchcock-Klassiker jedoch ist India nicht bloß das sympathische, naive Mädchen von nebenan auf der Schwelle zur erwachsenen Frau, sondern sie verbirgt etwas abgründiges unter ihrer braven Fassade. Und so ist es auch mit ihrer daueralkoholisierten Mutter und der seltsam betäubt wirkenden Welt, in der sie sich bewegen. Das Zeitgefühl löst sich auf, die Figuren erstarren in den Bildern manchmal wie passive Skulpturen oder Gefäße, die von Krabbeltieren erforscht oder von Ereignissen gefüllt werden. Manche Vorfälle scheinen nur, ohne zu sein. Oder sind sie etwa doch? Es könnte alles der blühenden Fantasie eines verwirrten Mädchens entspringen, ein langer Tagtraum. Wenn wir uns nun von der ekstatischen Umsetzung lösen, liegt auf der formal-inhaltlichen Ebene immer noch ein Thriller über einen mysteriösen Mann und eine junge Frau in dessen Bann …
In der Inszenierung und Struktur steckt zweifellos die große Kraft von „Stoker“, allerdings sollten auch keinesfalls die darstellerischen Leistungen, allen voran die von Mia Wasikowska („Jane Eyre“) als enigmatische India, unterschlagen werden. Matthew Goode etwa verleiht seinem Wolf im Schafspelz genau die richtige Balance aus psychotischem Impuls und kühler Berechnung, auch wenn seine Figur letztlich zu früh ihr Geheimnis offenbart und dann deutlich an grausiger Faszination einbüßt. Und natürlich ist da noch Nicole Kidman als Evelyn Stoker: Obwohl vergleichweise im Hintergrund gehalten, gehören ihr letztlich die bittersten Worte, die einem Charakter in dem morbiden Schauderstück über die Lippen rutschen. Die kleinen Details machen den Film zusätzlich spannend. Beispielsweise die beiden Eiscremesorten, die India von Charlie spendiert bekommt und die sie bereits vor eine Wahl stellen: Vanille, weiß, oder Schokolade, schwarz? Sie mag beides am liebsten gut gemischt, so die Antwort. Ob sich am Ende dennoch eine dieser Farben durchsetzen wird, wenn der passend gewählte Song „Becomes The Color“ von Emily Wells den Abspann einleitet … ?
Selbst wenn Chan-wook Park mit seinem finsteren US-Familienporträt gewiss nicht sein Meisterwerk abgeliefert hat, besitzt „Stoker“ wieder einen Reiz, der dessen Vorgänger „Thirst“ (2009) trotz guter Ansätze irgendwo abhanden gekommen ist. Vielleicht ist es gar das Ausloten von Grenzen auf diesem neuen Markt gewesen, das den Regisseur zu dieser inspirierten Arbeit animiert hat – die Möglichkeit, sich trotz gewisser Vorgaben stilistisch treu zu bleiben. Wie bereits zu Beginn angemerkt: Dies hätte unter schlechten Vorraussetzungen durchaus auch eine unerträglich hippe Aufarbeitung eines klassischen Thrillerstoffes werden können. Park ist hier ein Regieglücksfall, ausgestattet mit einem scharfen Auge auf das Innere der Geschichte und mit den notwendigen Fähigkeiten für eine innovative Gestaltung. Verpackung und Inhalt verschmelzen gekonnt miteinander. Selbst die moderne Typografie des Vorspanns verliert sich langsam hinter den surrealen Bildern, bis sie schließlich gänzlich in diese integriert wird. Das passt wunderbar.