Tenet, USA/GB 2020 • 150 Min • Regie: Christopher Nolan • Mit: John David Washington, Robert Pattinson, Elizabeth Debicki, Kenneth Branagh, Dimple Kapadia, Aaron Taylor-Johnson, Clémence Poésy, Michael Caine • FSK: ab 12 Jahren • Kinostart: 26.08.2020 • Website
Kritik
Mit seiner Dark-Knight-Trilogie hat Christopher Nolan das moderne Superhelden- und Blockbusterkino nachhaltig beeinflusst und verändert. Beflügelt von dem Erfolg seiner bodenständigen, düsteren Batman-Interpretation, konnte Warner Bros. ihn dazu bewegen, als Produzent und Story-Autor von Man of Steel auch Superman zu einer Leinwand-Wiederauferstehung zu verhelfen. Wie umfassend Nolans Beteiligung an Zack Snyders Film letztlich war, ist nicht klar, doch er war für mindestens einen Aspekt verantwortlich, der den Film von der Marvel-Konkurrenz abgegrenzt hat. Die britische Zeitung The Guardian berichtete 2014, dass Warner Interesse an einer humorvollen Abspannszene bei Man of Steel bekundete, und Nolans Antwort darauf soll sehr knapp gewesen sein: "Ein echter Film würde das nicht tun."
Nolan bestritt zwar seitdem, dass er sich so ausgedrückt hat, und meinte vielmehr, dass man nicht anderen Filmen hinterherrennen und stattdessen dem eigenen Ton treu bleiben sollte, doch wirklich überraschend wäre diese bissige Zurückweisung des Marvel-Kinouniversums von ihm nicht gewesen. Denn Nolan ist ein Filmemacher, der ganz genaue Vorstellungen davon hat, was einen echten Film ausmacht. Ein echter Film wird auf Zelluloid und nicht digital gedreht, er verwendet Computereffekte nur dann, wenn es absolut notwendig und unvermeidbar ist, und ein echter Film kommt immer zuerst in die Kinos und nicht bei einem Streaming-Dienst.
Manche würden Nolan in dieser Sache Snobismus unterstellen, doch es ist den unverrückbaren Idealen dieses Vollblut-Cineasten und Hollywoods Kinoliebhaber Nummer 1 zu verdanken, dass sein 200 Millionen Dollar schwerer neuer Film nach einer monatelangen Blockbuster-Dürreperiode nächste Woche in die Kinos kommt und nicht, wie unzählige andere, in eine unabwägbare Zukunft verschoben wurde. Und Tenet ist, gemäß allen Vorstellungen von Nolan, ein echter Kinofilm.
Wie Leonardo DiCaprios Hauptfigur in Inception davon schwärmte, dass Traumreisen die Möglichkeit eröffnen, "Kathedralen zu errichten, ganze Städte, Dinge, die es nie gegeben hat. Dinge, die es in der realen Welt gar nicht geben kann," so nutzt Nolan das Medium Film, um Kinogänger in fantastische Welten zu entführen, die zugleich möglichst nah an einer theoretischen Realität gehalten werden. Tenet ist der ultimative feuchte Traum für die Liebhaber von Nolans Werk: kreativ, intelligent, komplex, packend, visuell beeindruckend und zu wiederholten Sichtungen einladend.
Es sind bestimmte Themen, die Nolan faszinieren, wie Paradoxa und die subjektive Wahrnehmung der Zeit. Nolans Stil ist so speziell, dass es nicht umsonst inzwischen einen eigenen Wikipedia-Artikel darüber gibt. Sogar seinen Kriegsfilm Dunkirk inszenierte er als ein zeitliches Puzzle, das sich allmählich zusammenfügt. Tenet ist ein Paradoxon in sich. Oberflächlich betrachtet, erzählt der Film eine sehr simple, zeitlose Agentengeschichte: Ein Bösewicht bedroht die gesamte Welt und ein cooler Superagent und sein Team reisen rund um den Globus und versuchen ihn aufzuhalten, bevor es dazu kommt. Natürlich spielt eine schöne Frau, die zwischen dem Protagonisten und dem Bösewicht steht, eine Rolle. Das könnte auch die Zusammenfassung einer unmöglichen Mission von Ethan Hunt oder James Bond sein. Die Ähnlichkeit kommt nicht von ungefähr, denn Nolan ist ein selbsterklärter Riesenfan der Bond-Reihe. Coole Männer mit Waffen in schicken Anzügen auf einer gefährlichen Mission gegen übermächtige Gegner – das gab es schon bei Inception, und mit Tenet kommt Nolan seinem eigenen Bond-Film näher denn je. Doch es ist immer noch ein Nolan-Film durch und durch, und deshalb ist diese augenscheinlich einfache Geschichte in eine hochkomplexe Hülle verpackt, die immer wieder neue Fragen aufwirft und mit zahlreichen Wendungen aufwartet, die neue Blickwinkel auf die gesamte Geschichte eröffnen. Entscheidend ist hier nicht das "was", sondern das "wie", "warum" und "wann". Beschäftigten sich Filme wie Interstellar, Inception und Dunkirk noch damit, wie unterschiedlich das Vergehen der Zeit wahrgenommen wird, geht es in Tenet um das grundsätzliche Konzept der Zeit und die gegensätzlichen Ideen des Determinismus und des freien Willens. Nur Nolan schafft es, diese höchst anregenden, philosophischen Fragen in einem packenden Agenten-Actionspektakel unterzubringen.
Wenn es das Konzept des Hirn-aus-Kinos gibt, dann ist Nolans Tenet das exakte Gegenteil davon. Der Film erfordert die volle, ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuschauer und von Toilettenpausen im Kino würde ich abraten, denn auch nur wenige Minuten aus dem Film zu verpassen, wäre hinderlich beim Verständnis. Der Mechanismus, die Nutzung und die Tücken der Inversion werden im halsbrecherischen Tempo dargelegt, während der Film von einer internationalen Location zur nächsten springt. Das ist manchmal chaotisch, aber immer packend. Der Film hält sich nie lange mit Erklärungen auf und entfaltet sein verschachteltes und präzise durchdachtes Gebilde von der ersten bis zur letzten Szene ohne auch nur eine Sekunde Leerlauf. Es ist sicherlich Nolans komplexester Film und noch mehr als bei allen seinen Filmen seit Memento sind wiederholte Sichtungen ein Muss, um alle Feinheiten zu begreifen. Zwar wurde Tenet im Vorfeld immer wieder mit Nolans Inception verglichen (nein, es ist kein Sequel oder Spin-Off), seine quantenphysikalischen Ideen und philosophischen Überlegungen haben jedoch mindestens genauso viel mit Nolans Weltraum-Epos Interstellar gemeinsam. Theoretischer Physiker und Nobelpreisträger Kip Thorne, der Nolan bereits bei Interstellar beraten hat, wird nicht umsonst wieder im Abspann zu Tenet aufgeführt.
Ich klage gelegentlich darüber, dass viele Blockbuster heutzutage unnötig lange Laufzeiten haben, doch wenn es einen zweieinhalbstündigen Film in den letzten Jahren gab, der von etwas mehr Zeit profitiert hätte, um seine Geschichte und Charaktere etwas atmen zu lassen, dann ist es Tenet. Es ist nur ein kleines Manko im Angesicht der zahlreichen Triumphe dieses Films, der das Hirn gleichermaßen stimuliert wie die Sinne. Nolans Beharren, auf CGI zu verzichten, wird mit Action belohnt, die sehr organisch und spektakulär ist, ohne je übertrieben zu wirken, auch wenn der Film seinen eigenen Gesetzen der Physik folgt. Zu den Höhepunkten gehören u. a. ein explodierender Boeing 747 und eine der besten Autoverfolgungsjagden der letzten Jahre, doch erst in seinem großen Finale, in dem Zeit-Inversion im großen Maßstab zum Tragen kommt und Kämpfe auf entgegengesetzt fließenden Zeitebenen ausgetragen werden, erlebt man Actionszenen, wie man sie so zuvor noch nie gesehen hat, und die einem wahrlich den Atem rauben. Unterstützt werden sie von Ludwig Göranssons (Black Panther) atmosphärischem, gelegentlich unheilvoll anmutendem Score, der jedoch nicht ganz die Eingängigkeit und Wucht der Musik von Nolans Stammkomponisten Hans Zimmer besitzt (Zimmer entschied sich zugunsten von Denis Villeneuves Dune).
Obwohl Nolan und seine Darsteller versessen darauf sind, dass Tenet auf keinen Fall ein Zeitreisefilm ist, sollte man sich nichts vormachen, denn genau das ist er. Ja, die Methode hier heißt Inversion und sie ist in echter theoretischer Physik begründet, in der es um die Umkehr der Entropie eines Objekts geht (und an dieser Stelle steigen bereits viele gedanklich aus). Aber wenn etwas wie ein Fisch aussieht, riecht und schmeckt, dann ist es in den allermeisten Fällen ein Fisch. So verhält es sich auch mit Tenet und Zeitreisen. Sogar das klassische Beispiel des Großvater-Paradoxons wird von den Charakteren in dem Film direkt angesprochen und diskutiert. Und wie jeder Zeitreisefilm, wirft auch Tenet viele Fragen auf, ob sich das Ganze auch wirklich logisch und schlüssig zusammenfügt, denn die meisten (auch sehr guten) Zeitreisefilme tun es nicht. Ob es Tenet gelingt, werden erst wiederholte Sichtungen des Films verraten.
Schauspielerisch hat Nolan natürlich wieder ein exquisites Ensemble vor der Kamera versammelt, emotional bleibt der Streifen jedoch, wie der Großteil von Nolans Œuvre, weitgehend kalt und distanziert. Das gehört inzwischen genauso zu den Markenzeichen des Regisseurs wie der audiovisuelle Bombast und die komplexen, twistreichen Geschichten. Als namenloser Protagonist behauptet sich BlacKkKlansman-Star John David Washington fantastisch in einer actionreichen, körperlich fordernden Rolle, doch als Figur bleibt er ohne Ecken, Kanten oder Tiefe. Ob in Memento, Insomnia, Inception, Prestige oder den Batman-Filmen: Nolans männliche Hauptfiguren waren früher in der Regel gequälte Seelen mit einer traumatischen Vergangenheit, die nach Erlösung strebten. Nicht jedoch Tenets Protagonist, der vom Anfang bis zum Ende eine blanke Schablone bleibt. Das ist sicherlich eine bewusste Entscheidung gewesen, wie auch die, seinen Namen nie zu enthüllen (wie viele Blockbuster haben das zuvor getan?!). Er besitzt feste moralische Prinzipien, entsprechend der deutschen Übersetzung des Filmtitels, und lässt seine Menschlichkeit immer wieder mit subtilem lockerem Humor durchblicken, doch ansonsten repräsentiert er die undurchdringliche schattige Welt der Geheimdienste, in der Menschen nur Werkzeuge im Dienste eines höheren Zwecks sind. Nicht viel mehr erfährt man auch über seinen Partner Neil, gespielt von Robert Pattinson, der noch mehr dem Stereotyp eines Bond-esken Geheimagenten entspricht: er ist Brite, charmant, draufgängerisch und trinkt gerne und während der Arbeit. Obwohl ihre Charakterzeichnung denkbar vage bleibt, ist das Partner-Zusammenspiel von Washington und Pattinson auf Anhieb harmonisch und die Chemie stimmt.
Ihnen gegenüber steht Kenneth Branagh, einerseits der klare Antagonist des Films, andererseits aber gewissermaßen ebenfalls nur ein Werkzeug in dem Plan eines unsichtbaren Gegners. Ich weiß, es klingt konfus, doch mehr soll natürlich nicht gespoilert werden. Branaghs Figur ist sehr, sehr böse, mit ausgefallenen, sadistischen Ideen, wie er seine Widersacher am liebsten umbringt; ein Charakter, den man gerne hasst und definitiv der interessantere der beiden bösen russischen Oligarchen (neben seiner Rolle in Jack Ryan: Shadow Recruit), die Branagh in seiner Karriere verkörpert hat. In einer interessanten Umkehr der Konventionen erfährt man als Zuschauer tatsächlich mehr über seine Hintergründe und Beweggründe als bei den eigentlichen Hauptfiguren und Protagonisten des Films.
Das echte schauspielerische Highlight und der einzige emotionale Kern des Films ist jedoch Elizabeth Debicki als Andreis leidende, misshandelte Ehefrau Kat, die im Laufe des Films die größte Entwicklung von allen durchmacht und durch die Begegnung mit Washingtons Protagonisten innere Stärke und Selbstbehauptung gewinnt. Ob es nun Zufall oder kurioser Fall des Typecastings ist, dass Debicki nach der Miniserie "The Night Manager" schon wieder die Geliebte eines skrupellosen Waffenhändlers spielt, die zwischen die Fronten gerät, nachdem ein Geheimagent auf diesen angesetzt wird, sie liefert hier die beste Performance ihrer Karriere ab, die ihr hoffentlich noch viel Beachtung einbringen wird.
Tenet ist ein Film, der in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren sehr viel analysiert, diskutiert und auseinandergepflückt werden wird, und ich will an dieser Stelle keineswegs behaupten, dass ich nach der ersten Sichtung bereits jedes Detail von Nolans Zeit-Puzzle verstanden habe. Als er zu Ende war, hätte ich ihn am liebsten sofort von Anfang an geschaut. Der letzte Film, bei dem ich dieses Bedürfnis hatte, war Donnie Darko. Er fordert die Zuschauer, und wenn man sich beim Schauen darauf versteift, jede Wendung sofort nachzuvollziehen und Ordnung im Chaos zu finden, kann der Film anstrengend und bisweilen frustrierend sein. Am besten ist man beim ersten Mal damit beraten, zwar gut aufzupassen, sich aber vor allem auf diese Zeitreise mit Nolan einzulassen, und sich von den Eindrücken berauschen und überwältigen zu lassen. Das ist Kino!
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