Bilder: © 2020 20th Century Studios/Walt Disney Pictures
The New Mutants, USA 2020 • 94 Min • Regie: Josh Boone • Mit: Blu Hunt, Maisie Williams, Anya Taylor-Joy, Charlie Heaton, Henry Zaga, Alice Braga • FSK: ab 16 Jahren • Kinostart: 10.09.2020 • Website
Handlung
Danielle "Dani" Moonstar (Blu Hunt) ist eine junge Cheyenne-Indianerin und, ohne es zu ahnen, eine Mutantin, die mit ihrer Familie im Reservat lebt. Eines Nachts wird ihre Welt aus den Angeln gehoben, als eine unerklärliche, unaufhaltsame Macht das Reservat dem Erdboden gleichmacht. Dani verliert auf der Flucht das Bewusstsein und wacht an ein Bett gefesselt an einem fremden Ort auf. Dr. Cecilia Reyes (Alice Braga) erklärt, sie sei die einzige Überlebende eines gewaltigen Tornados und befinde sich nun in einer Einrichtung für junge Mutanten wie sie, die ihre Kräfte kürzlich erst entdeckt haben. Ihre vier jugendlichen Mitinsassen sind die schüchterne religiöse Schottin Rahne (Maisie Williams), der traumatisierte, verschlossene Südstaatler Sam (Charlie Heaton), der brasilianische Schnösel und Aufreißer Bobby (Henry Zaga) und die impulsive, gemeine Russin Illiyana (Anya Taylor-Joy), die Dani zu ihrer Mobbing-Zielscheibe macht. Sie alle sind aus unterschiedlichen Gründen in Reyes' Obhut gelandet, haben aber gemeinsam, dass die Manifestationen ihrer Superkräfte Menschenleben gekostet haben. Rund um die Uhr werden sie von Reyes überwacht und analysiert. In therapeutischen Sitzungen unter ihrer strengen Aufsicht sollen die neuen Mutanten lernen, ihre Kräfte zu kontrollieren, um keine Gefahr für sich oder andere darzustellen. Gelingt ihnen das, dürfen sie die Anstalt verlassen und vielleicht sogar für Reyes' mysteriösen Auftraggeber arbeiten, um ihre Kräfte für einen höheren Zweck einzusetzen. Doch unheimliche Dinge gehen in der Anstalt vor sich. Einer nach dem anderen werden die Teenager von ihren tiefsten Ängsten heimgesucht, die immer realer und gefährlicher werden. Allmählich zweifeln sie an Reyes' Motiven, ihnen zu helfen.
Kritik
Wir schreiben das Jahr 2029. In den Ruinen der Zivilisation suche ich seit nunmehr drei Tagen nach Toilettenpapier. Vielleicht finde ich sogar genug, um mit der benachbarten Siedlung gegen Trockenhefe zu tauschen. Doch auf dem verwüsteten Gelände von Disneys 20th Century Studios, vormals 20th Century Fox, stolpere ich über etwas noch viel Selteneres, ein sagenumwobenes Artefakt aus einer alten Welt, dessen Existenz vermutet, aber auch bezweifelt wurde: eine Festplatte mit der Aufschrift TNM2017. Kann es denn wirklich sein? Habe ich eine Kopie von The New Mutants entdeckt, des im Limbo verschollenen letzten X-Men-Films, der noch unter Fox vor dem Aufkauf durch Disney entstanden ist?! Ich muss sicher sein. Das Klopapier kann warten. Ich kehre zu meinem Unterschlupf zurück, schmeiße meine Dynamo-Maschine an, die mein Notebook und meinen Beamer mit Strom versorgt, koche mir, wie jeden Abend seit Jahren, eine Schüssel Nudeln, und mache mich bereit, herauszufinden, was sich nun hinter dem Film verbirgt, den das Schicksal uns so lange vorenthalten hat.
So jedenfalls habe ich mir vor einigen Monaten vorgestellt, wie ich eines Tages den vor fast genau drei Jahren abgedrehten Film zu sehen bekommen könnte, der erst von Fox, später von Disney, und zuletzt im Zuge der Corona-Krise immer wieder verschoben wurde. Der erste Teaser-Trailer wurde bereits im Oktober 2017 veröffentlicht. Seitdem wurden die Fans immer wieder vertröstet, bis sie alle fünf Phasen der Trauer durchgemacht haben und aus Vorfreude erst Verärgerung und inzwischen Gleichgültigkeit wurde. Und jetzt kommt The New Mutants doch noch in die Kinos. Dass Disney den Premium-Blockbusterkandidaten Mulan experimentell gegen Aufpreis über Disney+ auswertet, die anderen großen Filme weit nach hinten und größtenteils ins nächste Jahr verschoben hat, diese Marvel-Verfilmung aber mit minimalem Werbeaufwand und ohne großes Aufsehen mitten während der Corona-Zeit in die Kinos bringt, sagt alles darüber aus, was das Studio von dem Potenzial des Films hält.
Wird ein Film erst Jahre nach seiner Fertigstellung veröffentlicht und werden ihm dann auch noch Pressevorführungen weitgehend versagt, wie in den USA, oder hier in Köln, stimmt das erfahrungsgemäß kaum optimistisch. Doch The New Mutants ist weder ein grotesker Totalausfall noch das versteckte Juwel unter X-Men-Verfilmungen, sondern vor allem eine recht durchschnittliche Teenie-Horrorklamotte mit guten, aber unausgeschöpften Charakteren und gelegentlichem CGI-Overkill. So beschwerlich der Weg von The New Mutants auf die Leinwände war, so in jeder Hinsicht antiklimatisch und unspektakulär ist das Endergebnis.
Tatsächlich wirkte sich Disneys Desinteresse an dem bei der Fox-Übernahme geerbten Film möglicherweise sogar zu seinem Vorteil aus. Die geplanten umfassenden Nachdrehs, die Fox ursprünglich veranlassen wollte, wurden verworfen, da man nicht noch mehr Geld in ein Projekt pumpen wollte, das sowieso keine Zukunft in Disneys Marvel-Universum hat. Deshalb wirkt der Film im Gegensatz zu Comicverfilmungen wie X-Men: Dark Phoenix, Justice League, oder Suicide Squad, die stark unter der Einmischung der Studios gelitten haben, immerhin nicht inkohärent, zerfahren oder tonal uneinheitlich. Er kommt in der ursprünglichen und unveränderten Vision des Regisseurs Josh Boone in die Kinos, eine #ReleaseTheBooneCut-Kampagne wird nicht nötig sein. Leider ist Boones Vision trotz guter Ansätze auch nicht besonders aufregend oder originell.
The New Mutants wurde als erster waschechter Horrorfilm aus dem X-Men-Universum angekündigt und dieses Versprechen hält er auch. Nach Logan erst es der zweite X-Men-Film, der mit einer FSK ab 16 Jahren in unsere Kinos kommt. Der Streifen ist jedoch harmloser als die Altersfreigabe vielleicht vermuten lässt und bewegt sich voll und ganz im vertrauten Rahmen des PG-13-Teenie-Horrors, einschließlich dessen Klischees. Bisherige X-Men-Filme oder gar andere Marvel-Verfilmungen sind bei The New Mutants daher nicht die beste Vergleichsbasis. Beschreiben lässt sich der Film wie eine Kreuzung aus dem Psychiatrie-Klassiker Einer flog über das Kuckucksnest auf John Hughes' The Breakfast Club, versetzt mit übernatürlichen Elementen. Oder einfacher ausgedrückt: Der Film ist eine modernisierte Version von Nightmare III – Freddy Krueger lebt. Folterte darin Freddy Krueger junge Menschen in einer Nervenheilanstalt mit ihren Urängsten und Geheimnissen, sind es die eigenen Kräfte der Jugendlichen, die die Bedrohung heraufbeschwören.
Josh Boone, dessen Miniserien-Adaption von Stephen Kings "The Stand" dieses Jahr erscheinen wird, entpuppt sich mit The New Mutants als ein Liebhaber des Horrorkinos. Genrefans werden darin viele Verweise auf Genreklassiker wie Carrie oder Psycho finden. Es ist auch kein Zufall, dass Boone den genreerfahrenen Kameramann Peter Deming engagierte, der seine Karriere mit Sam Raimis Tanz der Teufel II begonnen und auch an Drag Me to Hell, The Cabin in the Woods und allen Scream-Sequels gearbeitet hat. Die beklemmenden, heruntergekommenen Gänge und kargen Zellen der Anstalt, die bereits als Haupt-Drehort von Martin Scorseses Shutter Island diente, komplementieren die unheimliche Horror-Ästhetik. Doch während die Einzelelemente stimmig sind, kommen sie nicht zu etwas Eigenständigem zusammen.
Die X-Men-Filmreihe, wie Bryan Singer sie anfangs konzipiert hat, war eine Allegorie auf Menschen, die von der Gesellschaft nicht akzeptiert und diskriminiert werden. In Boones Film sind es die jungen Menschen selbst, die erst lernen müssen, sich selbst zu akzeptieren und so ihre inneren Dämonen zu überwinden – manchmal symbolisch und manchmal wortwörtlich. Der Horror äußert sich vordergründig in grausigen Visionen, wie einem dämonischen CGI-Bären, wandelnden verkohlten Leichen, oder grotesken grinsenden Kreaturen mit scharfen Zähnen. Doch sie sind letztlich eine Manifestation des realen Ballasts, den diese tragischen Figuren mit sich schleppen, sei es Robertos Angst vor Intimität (Rogue aus den X-Men-Filmen lässt grüßen!), Kindesmissbrauch bei Illiyana, religiöser Wahn aus Rahnes Gemeinde oder Danis Schuldgefühle, als Einzige überlebt zu haben.
Wie bei seinem Tränendrüsen-Drücker Das Schicksal ist ein mieser Verräter, findet Boone guten Zugang zu seinen jugendlichen Protagonisten und ihren Problemen. Die zarte Liebe zwischen Dani und Rahne entwickelt sich natürlich, ohne dass aus ihre eine große Sache gemacht wird. Newcomerin Blu Hunt und "Game of Thrones"-Star Maisie Williams haben lockere, ungezwungene Chemie miteinander. Doch es ist The-Witch-Darstellerin Anya Taylor-Joy, die aus dem Ensemble als echter Star herausragt. Als zickige, aber eigentlich zutiefst traumatisierte Illiyana, die einen Schutzwall aus Herablassung und Abweisung um sich gebaut hat und wortwörtlich in eine andere Welt flüchten kann, um sich der Realität zu entziehen, überstrahlt sie ihre Co-Stars und holt sie trotz eines etwas inkonsistenten russischen Akzents alles aus einer Rolle heraus, die schnell hätte albern oder karikaturhaft werden können.
Die guten Anlagen der Figuren und ihre Chemie in den wenigen gemeinsamen ruhigen Momenten treten in der zweiten Hälfte des nur knapp 90-minütigen Films leider in den Hintergrund. Stattdessen wird das Horror- und Actionpedal durchgedrückt, bis spätestens im Finale jegliche Spannung, Atmosphäre und Tiefe in Computereffekten ertränkt werden. Das ist schade, denn damit wurde Potenzial für einen wirklich guten Coming-Of-Age-Superheldenfilm mit düsteren Elementen vergeudet.
Die guten Schauspieler haben zudem immer wieder mit steifen bis hin zu bescheuerten Dialogen zu kämpfen. Wenn Illiyana von ihren Mitstreitern vor ihrem Kampf gegen einen übernatürlichen Gegner mit "This is magic" gewarnt wird und mit "So am I" antwortet, soll das natürlich ein Verweis auf ihr Comic-Alter-Ego Magik sein, klingt aber nicht cool, sondern einfach erzwungen. Dass Reyes es immer wieder nötig hat, von "neuen Mutanten" zu sprechen, damit der Titel eine Rechtfertigung hat, kommt ebenfalls nicht organisch rüber. Alice Bragas Talent steht spätestens seit "Queen of the South" außer Frage, doch leider ist sie in dem Film im Gegensatz zu ihren jungen Co-Stars mit einer öden, eindimensionalen Rolle belastet.
Weniger die Schuld des Films selbst als der Gesamtsituation ist auch der Umstand, dass er zwar in sich geschlossen, dennoch aber eindeutig in ein größeres X-Men-Universum eingebettet ist, ohne dass dies irgendwohin führen wird. Die ganz expliziten Querverweise sollen im Vorfeld entfernt worden sein, dennoch bestehen keine Zweifel daran, in welcher Welt der Film spielt. Die Idee von Mutanten ist hier niemandem neu, die X-Men sind bekannt, Professor X wird zwar nie namentlich erwähnt (ursprünglich war mal ein Gastauftritt von James McAvoy in der Rolle sogar geplant), ist aber in Dialogen eindeutig gemeint, und für Comic-Kenner gibt es einen ganz großes Easter Egg, auf dem die von Boone geplanten Fortsetzungen mit Sicherheit aufbauen sollten.
Stattdessen wird es aber bei diesem einen Film bleiben, weniger ein krönender Abschluss der X-Men-Ära von Fox als eine kuriose, kleine Randnotiz in der rasant wachsenden Welt von Comicverfilmungen.
Fazit
Mit interessanten Charakteren und einem harmonischen Ensemble – allen voran die herausragende Anya Taylor-Joy – bildet The New Mutants in der ersten Filmhälfte ein solides Fundament für einen Coming-Of-Age-Horrorfilm, schafft es aber nicht, auf diesem aufzubauen. Übrig bleibt passabler, effekthascherischer und letztlich belangloser PG-13-Teenie-Grusel mit guten Ideen, aber einer uninspirierten Ausführung. Die lange Wartezeit steht hier in keinem Verhältnis zum unspektakulären Ergebnis.