Utopia , GB 2013 • 316 Min • Regie: Marc Munden, Alex Garcia Lopez & Wayne Che Yip • Mit: Fiona O’Shaughnessy, Neil Maskell, Alexandra Roach, Adeel Akhtar, Nathan Stewart-Jarrett, Oliver Woollford, Paul Higgins, Paul Ready • FSK: ab 18 Jahren • Verleih: Polyband/WVG • Heimkino-Start: 27.03.2015 • Englische Webseite
Es beginnt in den ersten Sekunden noch ganz harmlos. Übersättigte, ungewöhnliche aber ansprechende Kontraste untermalen die Szenerie in einem Comicladen in England. Die letzten Kunden des Tages reden nicht, blättern lustlos in Comics herum, leben in den Tag hinein. Es kommen zwei Männer herein, obgleich der Laden schon offiziell geschlossen hat. Die Hinweise auf die Öffnungszeiten des dicklichen Comicbuchverkäufers ignorieren die beiden beflissentlich. Mittlerweile wabert im Hintergrund der Szenerie ein leise bedrohliches Surren und Brummen, wie es einst bei der Arbeitsweise in David Lynchs Filmen der Fall ist. Die beiden Männer, einer schlank, grazil im blauen Retro-Anzug, der andere übergewichtig, unbeholfen in Jogginghose und Arbeiterjacke, stellen eine gelbe Tasche ab. Während der korpulentere Mann auf den Comicverkäufer zustrampelt und Fragen über das „Utopia Manuskript“ stellt, holt der Anzugträger ein Metallrohr heraus und knüppelt im leicht unscharfen Hintergrund der Szene mit völliger Affektlosigkeit einen der Kunden nieder. Das Gespräch endet derweil mit der Frage: „Wo ist Jessica Hyde?“. Eine Frage, die noch oft gestellt werden wird. Das wabernde Hintergrundrauschen baut sich nun zu Cristobal Tapia De Veers großartigen, irgendwie in seiner künstlichen Leichtigkeit beklemmenden, einprägsamen und verspielten Synthie-Soundtrack auf. Die restlichen Kunden und der Verkäufer werden nun Opfer der für die Killer belanglos und beiläufig ausgeführten Gewalt. Willkommen bei „Utopia“.
Die erste Szene der Staffel 1 etabliert „Utopia“ direkt zur eigenen Marke. Verstörende Momente werden kontrapunktiert mit dem tänzelnden Soundtrack, drastische Gewaltdarstellungen umrahmt von satten Farbspielen und skurrile menschliche Subjekte finden sich in dieser Welt. Diese stilistischen Kniffe verkommen dabei nicht zu bloßen Schauwerten, Selbstzweck, Effekthascherei oder pornoartiger, morbider Gewaltbefriedigung. Es ist vielmehr Kern der Ausgestaltung und Schraffierung der Welt dieser Serie. Am Rande von drohender Lebensmittelknappheit, Überbevölkerung, sozialem Unfrieden und existentieller Angst im Gegenpol zur sonstigen verwöhnten Übersättigung und Verfettung, malt „Utopia“ ein überzeichnetes, knallbuntes, kritisches und spitz zulaufendes Bild von einer Welt auf der Kippe zur Dystopie. Der Kontrastreichtum findet sich schon beim Titel. Um diese Probleme zu lösen, mauscheln im Hintergrund mächtige, geheime Organisationen ihre Ansätze zur Bewältigung der weltlichen Ärgernisse zusammen. Totale Überwachung, Genozid, politische Manipulation und Hinrichtungen können da schnell auf der Agenda stehen. Allerdings hat ein inhaftierter, schizophrener Wissenschaftler der Genetik schon vor zig Jahrzehnten während seiner Therapie die Graphic-Novel „Utopia“ erschaffen, in welcher er scheinbar über all diese Machenschaften und künftige Katastrophen im Vorfeld Bescheid wusste. Das ist genau der Zündstoff für einen Haufen Verschwörungstheoretiker, denen dieses Manuskript in die Hände fällt. Achja, und wo ist Jessica Hyde?
Wer ist Jessica Hyde (Fiona O’Shaughnessy)? Das sollte der Zuschauer selbst herausfinden. So viel sei gesagt, dass sie später zu den vier „Utopia“-Nerds hinzustößt und viele Handlungsstränge in ihr zusammenlaufen. Die vier Enthusiasten des Graphic Novels lernen sich über ein Internetforum kennen und müssen schnell ihr bisheriges Leben hinter sich lassen, denn der tumbe Killer Arby (Neil Maskell) eines schleierhaften Pharmakonzerns (oder etwa einer anderen Organisation?) ist bereits hinter ihnen, Jessica Hyde und dem „Utopia Experiment“ her. Die fortan im Untergrund kämpfende Gruppe besteht aus der Medizinstudentin Becky (Alexandra Roach), dem Angestellten Ian (Nathan Stewart-Jarrett), dem Verschwörungsfreak Wilson Wilson (Adeel Akhtar) und dem minderjährigen Proll Grant (Oliver Woollford). Ebenfalls der beim Gesundheitsamt arbeitende Michael Dugdale (Paul Higgins) spürt am eigenen Halse die zudrückende, erpresserische Hand des zwielichtigen Pharmakonzerns. Bei den Figurenzeichnungen finden sich nicht allzu viele sympathische Charaktermerkmale, was die Identifikation erschweren oder erleichtern kann. Persönlich gesprochen, fiel es etwas schwer mit den Charakteren „mitzufiebern“. Außerdem finden sich kleinere Logiklöcher und winzige Plotlöcher, was nicht weiter sauer aufstößt, weil bei undurchsichtigen Verschwörungsthemen manchmal der Deus Ex Machina aufwartet, um den Zuschauern eine plötzliche Überraschung zu bieten. Es gelingt den Machern weitestgehend, eine runde Parallelwelt zu schaffen, sie versagen aber gelegentlich bei Nebenfiguren. Man müsste als ausgebuffter Intrigant schon dermaßen um 35 verspiegelte Ecken schauen können, um für genau diesen einen Moment eine Hinterfrau oder einen Hintermann in dieser speziellen Situation platzieren zu können. Um nichts zu spoilern, klingt dies etwas vage.
Im Endergebnis heißt das für „Utopia“, dass mit dem bizarren Neil Maskell, seinem Partner Lee (Paul Ready) und seinen Jazz-Schnürschuhen die skrupellosesten Killer der jüngeren TV-Geschichte umherstreifen. Der sagenhafte Kontrastreichtum entwickelt seinen ganz eigenen Schauwert und wird mit coolen, fast schon mythologischen Ideen zum Leben erweckt. Über kleinere generische Ungereimtheiten lässt sich da getrost hinwegsehen. Im Februar 2014 wurde überdies bekannt, dass der US-Sender HBO eine Adaption der Serie in Auftrag gegeben hat. Der Regisseur David Fincher (ebenfalls Fan von „Utopia") wird alle Folgen der ersten Staffel drehen und arbeitet gemeinsam mit Gillian Flynn (Autorin von „Gone Girl“) an der US-Version.
BluRay-Extras
Audiokommentar: Es gibt einen Kommentar von Schöpfer Dennis Kelly zur Pilotfolge. Weitere Kommentare von Regisseur Marc Munden und Produzentin Rebekah Wray-Rogers.
The World of Utopia: Erläuterungen verschiedener Beteiligter (z.B. Autor Dennis Kelly oder Schauspieler) zur Szenengestaltung und Gewaltdarstellung.
Fly on the Wall Featurette: Making-Of von der Schießerei in einer Schule.
Analyse der Stunszenen: Stuntkoordiantoren und Schauspieler bieten Einblick in das Handwerk der Stuntchoreographie.
Entfernte Szenen und Trailershow
Informationen zur Veröffentlichung
Die 1. Staffel von „Utopia“ liegt in ungeschnittener Fassung im Verleih von Polyband/WVG seit dem 27.02. auf DVD und seit dem 27.03. auf BluRay im Handel. Die BluRay beinhaltet die deutsche und englische Sprachfassung (beide DTS-HD 2.0), mit wahlweise englischen und deutschen Untertiteln. Die Bild- und Tonqualität ist super. Der BluRay-Veröffentlichung liegen außerdem folgende Extras vor:
• Audiokommentare
• "The World of Utopia"-Featurette
• "Fly on the Wall Featurette"-Featurette
• Analyse der Stuntszenen
• Entfernte Szenen
• Trailershow
DVD-Cover © Polyband/WVG
Trailer
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